Am Abend des Mordes - Roman
ich hatte den Eindruck, dass sie es schon bereute, als wir beim Hochzeitsmahl zusammensaßen. Außerdem war sie hübsch, viel zu hübsch für einen Typen wie Morinder. Ein bisschen mager vielleicht …«
Barbarotti gähnte.
»Was zum Teufel? Sie gähnen?«
»Entschuldigen Sie«, sagte Barbarotti. »Ich habe diese Nacht nicht viel Schlaf bekommen.«
»Sie nehmen nichts auf, Sie machen sich keine Notizen, und dann sitzen Sie hier und gähnen, während ich lebenswichtige Informationen liefere. Was sind Sie eigentlich für ein lausiger Polizist?«
»Ich bitte um Entschuldigung. Es ist wohl ein bisschen stickig hier.«
»Stickig?«
»Wenig Sauerstoff«, verdeutlichte Barbarotti. »Dann muss man gähnen. Wenn man zu wenig Sauerstoff im Blut hat.«
Söderberg nahm einen tiefen Lungenzug und stierte ihn an.
»Haben Sie noch mehr Fragen? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«
»Eine«, sagte Barbarotti. »Ellen Bjarnebo, Morinders Lebensgefährtin, sind Sie Ihr jemals begegnet?«
»Der Schlächterin?«
»Ja.«
»Ich kenne sie nur vom Sehen«, erklärte Söderberg. »Sie wohnt ja in der Stadt, deshalb sieht man sich natürlich ab und zu. Eine Zeitlang hat sie bei der Post gearbeitet.«
»Haben Sie mit ihr gesprochen?«
»Niemals«, antwortete Söderberg. »Man kann sich beherrschen.«
»Na schön«, sagte Barbarotti und stand auf. »Danke für den kleinen Plausch.«
»Sie dürfen es mir gerne erzählen, wenn Sie ihn finden«, meinte Söderberg. »Tot oder lebendig, wie gesagt. Aber verdammt noch mal, Sie sollten wirklich nicht gähnen, wenn sie Leute verhören.«
»Das war kein Verhör«, entgegnete Barbarotti. »Das war nur eine Unterhaltung.«
»Können Sie nicht trotzdem darauf achten, nicht zu gähnen?«
»All right«, sagte Barbarotti. »Ich werde es mir merken.«
»Nun gehen Sie schon«, sagte Söderberg. »Jetzt muss ich in einer Stunde sechs Schachzüge schaffen. Sie finden selbst hinaus?«
»Aber immer«, sagte Barbarotti, gab Söderberg die Hand und unterdrückte ein neuerliches Gähnen.
Als er wieder im Auto saß, merkte er, dass er den Tränen nahe war.
Ich will deine Stimme hören, Marianne, dachte er. Ich brauche bald ein Zeichen, sonst gehe ich noch kaputt. Gestern hast du gemeint, du hättest mir geschrieben, oder habe ich mich da verhört? Ich breche wirklich bald zusammen.
Wie genau ein solcher Zusammenbruch aussehen würde, war schwer zu sagen, aber er würde von unten und von innen kommen, und dieses Raster aus Normalität und Selbstbeherrschung, oder was auch immer alles zusammenhielt, schien wirklich äußerst dünn zu sein. Ein Spinnennetz, das einen Büffel oder etwas in der Art zu fangen versucht.
Zumindest stellenweise, in gewissen Situationen, für gewisse bleiche Sekunden bei gewissen eingefrorenen Gelegenheiten, kam es ihm so vor.
Zum Beispiel jetzt, nach einer fünfundzwanzigminütigen Unterredung mit einem Jugendmeister im Schach aus Ljusdal in der Fabriksgatan 16 B. Es hing mit dem zusammen, was Rönn die Versteinerung der Trauer genannt hatte, vielleicht war es nur eine Variante davon, denn in diesen Momenten – oder unmittelbar vor diesen Momenten – war es am schwierigsten. Wenn man nicht einmal mehr die Kraft hatte zu versteinern. Wasser, das sich nicht zum Gefrieren durchringen konnte, obwohl die Temperatur einige Grad unter den Gefrierpunkt gefallen war? Wenn er … wenn er folglich binnen vier, fünf Sekunden nicht dafür sorgte, dass der Wagen ansprang und er hier wegkam, konnte es sehr wohl zu spät sein. Viel zu spät und ganz plötzlich.
Er ließ den Wagen an.
Er legte einen Gang ein.
Er schnallte sich an und fuhr los.
Ich habe es geschafft, dachte er. Was soll ich jetzt tun? Ich sitze in meinem Auto, aber wohin soll ich fahren?
12
S tatt sich ins Präsidium zurückzubegeben, fuhr er aus der Stadt hinaus, bog im Kreisverkehr in Rocksta links ab und nahm die Landstraße 272 in westliche Richtung. Aus irgendeinem Grund fiel es ihm leichter, Auto zu fahren, als stillzusitzen, und wenn er tatsächlich als Polizeibeamter arbeitete, war es nicht weiter schwierig, ein begründbares Ziel für einen Ausflug zu finden. Natürlich nicht.
Die Fischerhütte . Sie lag gut zwanzig Kilometer von Kymlinge entfernt an der 272, am westlichen, sich verschmälernden Teil des Sees Kymmen. Nach zwanzig Minuten war er da. Er bog in eine kleine, unasphaltierte Straße mit einem alten, gelben Schild: Gertrudsholm . Nach einigen hundert Metern tauchte zwischen den Kiefern der
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