Am Anfang eines neuen Tages
gefielen den Kindern am besten und sie genossen es, mit ihr lesen zu üben. Sie konnten die nächste Unterrichtsstunde kaum erwarten.
„Ich fürchte, das ist alles für heute“, sagte sie nach einer Stunde. Sie wagte es nicht weiterzumachen, weil ihre Mutter sie sonst gewiss suchen würde – und wahrscheinlich ihre Drohung wahr machen und sie in ein Pensionat schicken würde, wenn sie entdeckte, was Josephine tat. Mutter hatte erlaubt, dass die Kinder die Terrasse vom Unkraut befreiten und dafür mit Büchern bezahlt wurden, aber nicht, dass sie in der Küche eine Schule einrichtete, in der Jo die Lehrerin war. Sie wäre entsetzt, wenn sie Bescheid wüsste.
Josephine gab jedem der neuen Kinder ein Buch als Bezahlung, dann zog sie Roselle beiseite. „Mir ist aufgefallen, dass du viel schneller lernst als die anderen, Roselle. Da ich nicht viel Zeit für den Unterricht habe, dachte ich mir, ich könnte dir etwas beibringen und du unterrichtest dann die kleineren Kinder. Was hältst du davon?“
„Wirklich, Missy Josephine? Das würde mir gefallen. Es macht Spaß, Lehrerin zu sein. Bevor die Schule abbrannte, durften Cissy und ich bei Miss Hunt auch die Kleinen unterrichten und sie hat gesagt, dass ich irgendwann auch Lehrerin werden könnte, wenn ich will. Glauben Sie, dass ich das wirklich irgendwann kann, Missy Jo? Meinen Sie, ich könnte Lehrerin werden wie Miss Hunt?“
Josephine wusste nicht, was sie denken sollte. Sie war mit den gleichen Vorurteilen aufgewachsen wie ihre Mutter, die glaubte, dass Sklaven nur zu körperlicher Arbeit in der Lage waren. Natürlich wusste sie, dass das nicht stimmte, aber konnte die Welt sich schnell genug verändern, dass Schwarze als Lehrer akzeptiert wurden? Jo war die Ironie bewusst, dass der Krieg sie gezwungen hatte, Sklavenarbeit zu verrichten, die ehemaligen Sklaven jetzt jedoch davon träumen konnten, die Arbeit von Weißen zu machen. Wieder fiel ihr Alexanders Frage ein: „Was wünschen Sie sich für Ihr Leben … für Ihre Zukunft?“
„Ich glaube, du wärst eine großartige Lehrerin, Roselle.“
„Wirklich, Missy Jo?“ Sie strahlte Josephine an, und zum ersten Mal wurde Jo bewusst, was für ein hübsches Mädchen sie war, mit Zügen, die genauso fein und zart waren wie die ihrer Schwester Mary, so fein wie die Züge einer weißen Frau. „Miss Hunt hat gesagt, im Norden, wo sie herkommt, haben Schwarze alle möglichen Berufe und wohnen in schönen Häusern und alles. Ist das wahr, Missy Jo?“
„Ich weiß es nicht, Roselle. Ich war noch nie dort.“ Sie würde Alexander fragen, wenn sie ihn morgen sah. Morgen! Sie hatte sich ganz früh am Morgen unter dem Baumhaus mit ihm verabredet, bevor das Amt für Freigelassene sein Büro öffnete und bevor Mutter und Mary bemerkten, dass sie fort war.
Am nächsten Morgen wachte Jo beim ersten Hahnenschrei auf. Sie stieg sofort aus dem Bett. In ihrem Zimmer war es sehr dunkel, und während sie auf Zehenspitzen herumschlich und sich leise anzog, wurde ihr bewusst, dass es wieder regnete. Die Wolken hingen so tief, dass sie das Dach der Scheune beinahe berührten und sahen zwischen den Bäumen aus wie Rauch, als sie in den Nieselregen hinaustrat. Gegen die Kälte hatte sie sich ein Tuch um ihre Schultern geschlungen, das sie nun über den Kopf zog. So schnell ihre kaputten Schuhe es erlaubten, eilte sie den Weg zum Baumhaus hinunter.
Alexander Chandler wartete schon unter dem Baum auf sie. Sein Pferd graste in der Nähe, die Satteltaschen hielt er in der Hand. Er lächelte, als er sie sah. Hastig lief Jo zu ihm unter das Baumhaus, das als Dach diente und den Regen abhielt.
„Ich bin froh, dass Sie gekommen sind, Josephine.“ Sie bemerkte, dass seine Stimme nicht mehr heiser klang.
„Ja … ich auch.“ Es war ein unbehaglicher Augenblick. Keiner von ihnen schien zu wissen, wie er das Gespräch beginnen sollte. Der Regen trommelte auf das Baumhaus über ihnen und tropfte von den Blättern. Alexander brach das Schweigen zuerst.
„Ich habe Ihnen etwas mitgebracht. Hier, sehen Sie mal.“ Er öffnete die Satteltasche und Jo sah, dass sie mit Schuhen gefüllt war. Sie war sprachlos. „Es war schließlich meine Schuld, dass Ihr Schuh kaputtgegangen ist, immerhin sind Sie vor mir weggelaufen“, sagte er, „also habe ich Ihnen neue Schuhe besorgt. Das heißt, sie sind nicht richtig neu, sondern gebraucht, aber ich hoffe, Sie empfinden das nicht als Beleidigung.“
„Woher kommen sie?“
„Sie wurden von meiner
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