Am Anfang eines neuen Tages
Josephine konnte Priscilla im Spiegel hinter sich stehen sehen, während sie ihren Hut mit einer Hutnadel feststeckte.
„Ja … wunderbar“, murmelte Josephine. Aber in Wirklichkeit war es ihr nur recht gewesen, dass sie in den letzten Wochen einen Bogen um die Kirche hatte machen können. Zwar hatte ihre Mutter angeboten, sie sonntags abzuholen, aber Jo hatte als Entschuldigung angegeben, sie wolle Mrs Blake nicht allein lassen – und Mrs Blake hatte Harrison nicht allein lassen wollen: Aber jetzt, wo sie wieder Dienstboten hatten, konnten sie beide zum Gottesdienst gehen, worüber Josephine alles andere als glücklich war.
„Wenn Dr. Hunter den Rollstuhl bringt, müssen wir Harrison davon überzeugen mitzukommen“, sagte Mrs Blake. Sie sah so glücklich und hoffnungsvoll aus, dass Jo zustimmend nickte. Aber Harrison würde niemals mitgehen. Ein Mann, der so verbittert war wie er, hatte Gott sicher nichts zu sagen. Jo wusste das, weil sie selbst Gott auch nichts zu sagen hatte.
„Sind Sie sich sicher, dass ich nicht bei ihm bleiben soll, Mrs Blake? Es würde mir wirklich nichts ausmachen.“
„Harrison ist gut versorgt. Er hat gesagt, er ruft eins der Dienstmädchen, wenn er etwas braucht.“
Josephine machte sich immer noch Sorgen, dass er wieder versuchen würde, sich das Leben zu nehmen, wenn sie ihn allein ließ. Die Dienstboten kannten die Wahrheit und hatten versprochen, sie für sich zu behalten – es war unmöglich gewesen, Harrisons Selbstmordversuch vor ihnen geheim zu halten, nachdem sie all das Blut gesehen hatten. Josephine achtete seither darauf, vor Mrs Blake in sein Zimmer zu gehen, wann immer er eine Zeit lang allein gewesen war. Seine Mutter sollte nie mit dem entsetzlichen Anblick konfrontiert werden, den sie hatte verkraften müssen.
Jo genoss die Fahrt mit der Kutsche nach Fairmont an einem so schönen Frühlingstag. Aber als sie die Kirchentreppe hinaufstieg, wurde ihr bewusst, dass es ein Fehler gewesen war herzukommen. Das hübsche kleine Gebäude mit seinen ordentlichen Bänken und den bunten Fenstern erinnerte sie an die Stunden, die sie während des Krieges inbrünstig betend auf den Knien verbracht hatte. Und daran, wie Gott diese Gebete mit seiner grausamen Gleichgültigkeit verhöhnt hatte.
„Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mich hinten hinsetze?“, fragte sie. „Mir ist sehr warm. Meine Mutter würde sich aber ganz sicher freuen, wenn Sie neben ihr säßen.“ Zum Glück protestierte Mrs Blake nicht.
Josephine fand einen Platz in der allerletzten Reihe. Sie stand auf, wenn alle anderen es taten, und schlug das Gesangbuch an der richtigen Stelle auf, aber die kalte Wut, die sie erfüllte, machte es ihr unmöglich, auch nur einen Ton zu singen. Wenn sie diesen Gottesdienst heute Morgen irgendwie überstand, würde sie irgendwelche Ausreden finden, um nie wieder herkommen zu müssen. Der Pastor sprach vom Glauben, als wäre er so bunt und klar umrissen wie die Szenen, die auf den Bleiglasfenstern dargestellt waren, aber Jo wusste, dass das nicht stimmte. Der Heiland, der sie von den Fenstern herunter ansah, schien so flach und kalt und leblos wie das Glas zu sein. Wie sich herausgestellt hatte, war die Welt nicht so ordentlich, wie man Josephine glauben gemacht hatte – Folge einfach nur den Regeln, tu, was richtig ist, dann wirst du ein glückliches Leben führen … Gute Menschen werden gesegnet, böse Menschen werden bestraft … Bittet, und euch wird gegeben … Nichts davon stimmte. Gott erhörte keine Gebete.
Josephines Wut rumorte und wuchs in ihrem Innern, bis sie kaum noch atmen konnte. Was machte sie eigentlich hier, wenn sie nichts mehr von all dem glaubte? Während die Gemeinde aufstand, um das Apostolische Glaubensbekenntnis zu sprechen, drängte sie sich aus der Bank in den Mittelgang und eilte nach draußen.
Frische Luft! Es roch nach Heu und Holzrauch und Pferden, aber wenigstens fühlte sie sich nicht länger eingesperrt. Sie lief die Kirchentreppe hinunter und ließ das Gebäude hinter sich. Am liebsten wäre sie den langen Weg nach Hause gelaufen, aber es war zu weit und ihre Schuhe waren in einem schrecklichen Zustand. Sie würde warten müssen, bis der Gottesdienst zu Ende war.
Eine Reihe Kutschen parkte vor der Kirche und die Pferde schlugen mit ihren Schwänzen nach Insekten, während die schwarzen Fahrer sich in der Sonne entspannten und sich leise unterhielten. Josephine beschloss, auf den Friedhof hinter der Kirche zu gehen. Die Angeln an
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