Am Anfang war das Chaos
vor sich, die Treppe abwärts. Es waren dreizehn hohe Stufen. Wieder ertönte das seufzende Warnsignal.
Ilfa betrat einen großen, dunklen Raum, eine Kaverne oder Katakombe, deren Aussehen ganz anders war als das der zauberischen Halle darüber. Die Wände und die Decke waren dunkel, nicht nur vom Ruß unzähliger Fackeln und Öllampen, die hier gebrannt hatten. Dicke Säulenbündel teilten den Raum in viele einzelne Zonen. Jede war dunkel und voller Geheimnisse.
Noch ein Schritt geradeaus.
Über den schweren, aus kaltem Stein gehauenen Säulenbündel klafften im Gewölbe schmale, senkrechte Schlitze. Von dort kamen Lichtstrahlen. Sie waren so grell wie die Sonne – es war vor vielen Jahren gewesen, daß Ilfa für wenige Zeit diese Grelle gesehen hatte. Damals mußte Helmond erklären, daß es die Sonne war.
Ilfa zuckte mit den Schultern und schob sich vorsichtig an einer Säule vorbei. Es galt, dem ungewohnt hellen Schein auszuweichen, der sich am Stein brach und das düstere, feuchte Gewölbe an ausgewählten Stellen beleuchtete. Das Licht war heller als hundert Öllampen. Ilfa spähte in die dunklen Räume zwischen den Bogengewölben, und es schien, als sei diese kalte Halle eine Hinrichtungsstätte.
Drohend und schwarz, auf Sockeln, die auf dem Boden standen oder aus den Wänden hervorsprangen, starrten Fabeltiere, die steinernen Abbilder echter Raubtiere und Dämonenfratzen, den Eindringling an. Ihre Augen glühten. Es waren farbige, geschliffene Edelsteine, die das Licht zurückwarfen und zu leben schienen. Ilfa sah an den Wänden und zu Füßen der scheußlichsten Fratzen zusammengebackene schwarzrote Spuren. Sie sahen aus wie erstarrtes Wachs. Ilfa begriff: Es war Blut. Uralte Spuren grausamer Riten und Opferungen, jetzt nach langer Zeit wieder vor den Augen eines Eindringlings.
Ilfa spürte, daß die Wände und Säulen die Zeichen waren, daß es hier in den Katakomben mehr und schauerlichere Geheimnisse gab, als Helmond je vermuten konnte.
Von links ertönte ein Geräusch; es klirrte wie rasselnde Ketten.
Von rechts fuhr wieder jenes stöhnende Klageseufzen durchs Gemäuer. Ilfa drehte sich halb herum, hob die Klinge und machte ein Dutzend schnelle, entschlossene Schritte auf das Klirren zu.
Zwischen zwei Säulen, im Bereich des seltsamen Lichts, stand ein riesiger Steinblock. Er war halb mannshoch, eine Mannslänge breit und mehr als zwei lang. In der Höhe Ilfas umlief ein breites Band den schwarzen Stein. Das Band war ein Relief, das aneinandergereihte Dämonenfratzen zeigte. Aus dem oberen Rand des Opferblocks, dessen Flanken ebenfalls mit dicken Spuren geronnenen Blutes bedeckt waren, sahen schwere, handgroße Eisenringe hervor.
Und auf der Fläche des Opfersteins lag jener Fremde.
Ilfa war mit zwei Sprüngen dort.
Der Mensch war ohne Kleidung, abgesehen von einem Tuch um die Hüften und zwischen den Oberschenkeln. Er sah ihn aus dunklen, verschleierten Augen an. Er atmete schwach, also lebte er.
»Du bist der Fremde aus dem Trugbild. Dich hat der Wolf bewacht«, sagte Ilfa und blickte sich suchend um. Jeden Augenblick konnten die Wächter hinter den Säulen hervorspringen. Die dunklen Abschnitte des Kellers, die jene Fratzen und Dämonen verbargen, konnten auch Türen und Eingänge verstecken.
Der Mann bewegte den Kopf, bis er in Ilfas Gesicht blicken konnte.
Er antwortete nicht. Es war halb bewußtlos. Als ob ihn der Geruch der vielen tausend Blüten eingeschläfert hätte, die er freilich hier in der Gruft nicht riechen konnte.
»Wer bist du?« fragte Ilfa.
Statt einer Antwort stöhnte der Nackte. Aber es war nicht das Stöhnen oder Seufzen gewesen, von dem Ilfa gewarnt worden war. Er hob langsam die Hände, und jetzt erst nahm Ilfa wahr, daß seine Hände an den Gelenken mit einer höchst ungewöhnlichen Fessel an einer Kette festgemacht war. Ein rundes Ding mit einem eisernen Bügel und einem Loch in der Mitte, einer länglichen Öffnung.
»Stehst du im Bann eines Zaubers?« fragte Ilfa. Ganz langsam nickte der Unbekannte. Er hob wieder seine Handgelenke. Dann blickte er in die Richtung seiner bloßen Füße, aber sein Blick irrte ab. Seine Stimme war nur ein Flüstern, trotzdem verstand Ilfa, was seine Lippen formten.
»Fessel… Schlüssel.«
»Wo ist der Schlüssel?«
Unmerklich schüttelte er den Kopf. Ilfa begann zu suchen, ging langsam um das Fußende des Opfersteins herum und senkte die Augen. Der Blick glitt über den Schmutz des Bodens, suchte nach Spuren, obwohl Ilfa
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