Am Anfang war das Wort
tun könnte. Nie hätte sie angenommen, trotz allem, was über ihn erzählt wurde, trotz aller Anzeichen, daß er so grausam sein könnte. Was habe ich denn getan? wollte sie fragen, doch sie schluckte diese Frage herunter, als sie sah, daß er wieder seine Fingernägel begutachtete. Sie spürte, daß ihre Anwesenheit überflüssig war.
Innerlich zählte sie die Tage, die seither vergangen waren: Donnerstag, Freitag, Sabbat, Sonntag – und der fängt erst an.
Seit Donnerstag nachmittag hatte sie das Bett nicht verlassen. Tuwja hatte im Krankenhaus Bescheid gesagt, daß sie krank sei, und sie mit distanzierter Anteilnahme gepflegt. Hinter seinen gewohnten Bewegungen war eine neue Energie spürbar geworden, etwas, was sie nicht an ihm kannte. Etwas, was an Wut und Verzweiflung erinnerte.
Der Name Scha'uls wurde von beiden nicht erwähnt. Tuwja verließ die Wohnung und blieb endlos fort. Sie wußte nicht, wo er war. Am Freitag ging er zur Fakultätsversammlung und kam spätnachts zurück.
Sie verbrachte die Tage seit der Trennung schlafend. Nur manchmal stand sie auf, um zur Toilette zu gehen oder Wasser zu trinken. Wenn sie für eine Minute aufwachte, quälte sie das Gefühl des Untergangs mit einer ungekannten Macht, und sie glaubte, ihr Körper könne die Trennung nicht ertragen. Das Vergnügen, das sie seit ihrem Zusammensein mit Scha'ul kannte, das körperliche Vergnügen, war zu einer Sucht geworden, und sie wußte nicht, wie sie sich von ihr befreien sollte.
Wenn Tuwja zurückkam und sie zerstreut dazu drängte, etwas zu essen, schüttelte sie den Kopf. Es fiel ihr schwer zu sprechen, und Tuwja versuchte nicht, sie dazu zu zwingen.
Zum ersten Mal in ihrem Leben verspürte Ruchama den Wunsch, daß er die Mauer durchbrach, daß er ihr half. Und ausgerechnet diesmal, das merkte sie, war er erleichtert über ihre Zurückgezogenheit und ihr Desinteresse an dem, was er tat. Den ganzen Sabbat verbrachte er in seinem Arbeitszimmer.
Nun, nach dem Gespräch mit Adina, ging sie hinüber, zum ersten Mal seit Freitag, und fand ihn auf dem Sofa liegend, wo er mit offenen Augen an die Decke starrte. Auf dem Teppich zu seinen Füßen lagen alle Gedichtbände Tiroschs.
Ruchama begann sich zu fragen, ob Tuwja an ihrem Leiden teilhatte, diesem so sehr persönlichen Leiden daran, daß sie keinen Platz mehr im Leben Scha'uls hatte.
Es kann nicht sein, daß er es ihm gesagt hat, dachte sie. Er kann es unmöglich gewagt haben. Ausgeschlossen, daß Tuwja es weiß. Sie schaute ihn an. Er starrte weiterhin zur Decke, doch dann drehte er sich langsam zu ihr um. Er wirkte irgendwie leblos, gleichgültig.
»Das war Adina«, sagte sie leise. Dieser Satz schien ihr sicherer zu sein als alle Dinge der Welt.
»Was ist mit Adina?« fragte Tuwja, und dann sah sie, daß er das Telefon, das auf dem Tisch stand, ausgesteckt hatte. »Adina hat angerufen, sie sucht Scha'ul«, sagte Ruchama unsicher.
»Warum sucht sie ihn bei uns?« fragte Tuwja.
»Ich weiß es nicht. Sie versucht schon seit gestern, ihn zu erreichen. Ist er irgendwo hingefahren?«
»Keine Ahnung«, sagte Tuwja und setzte sich auf.
»Was ist los?« fragte Ruchama, und Tuwja antwortete nicht. »Jedenfalls hat sie gesagt, du sollst sie anrufen, bevor du kommst. Sie hat gesagt, du mußt hin. Hast du heute Vorlesung?«
Tuwja nickte. »Es ist die letzte große Vorlesung in diesem Jahr«, sagte er mit unendlich müder Stimme. »Diese Woche geht das Semester zu Ende, ich habe nur noch zwei Seminare.«
»Gut. Dann ruf Adina an. Ich glaube, ich gehe heute wieder zur Arbeit.«
Tuwja reagierte nicht. Er starrte noch immer geistesabwesend vor sich hin.
Ruchama betrachtete ihn mit wachsender Panik. Vermutlich hatte er es ihm doch gesagt, eine andere Erklärung gab es nicht.
Tuwja schüttelte sich und streckte die Beine aus. Das kleine Zimmer war vollgestopft mit Büchern. Überall lagen Stapel, in den Regalen, auf dem Schreibtisch, auf dem Fußboden. Zum Teil waren sie aufgeschlagen, in anderen steckten Notizzettel. Jedes Buch im Zimmer sah aus, als habe es jemand viele Male in der Hand gehabt. »Abgegriffene Bücher«, hatte Scha'ul Tirosch einmal mit amüsierter Zuneigung zu Tuwja gesagt. »Bücher, die man immer benutzt.«
Ruchama fiel auf, daß Tuwja in seinen Kleidern geschlafen hatte, sie bemerkte den säuerlichen Geruch, der im Zimmer stand. Sein Gesicht war blaß und hatte einen gequälten Ausdruck, als er sagte: » Gut, ich werde sie anrufen. Sonst verfolgt sie mich
Weitere Kostenlose Bücher