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Am Anfang war der Seitensprung

Am Anfang war der Seitensprung

Titel: Am Anfang war der Seitensprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amelie Fried
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Hautunreinheiten oder Mundgeruch hatte oder einfach nur ein unerträglicher Langweiler war.

    »Das ist für dich«, begrüßte mich Lucy und warf mir einen Brief hin.
    »Was ist das?« wollte ich wissen.
    »Keine Ahnung, von der Schule.«
    Mir schwante nichts Gutes, als ich den länglichen grauen Umschlag aus Recyclingpapier aufschlitzte. Und tatsächlich: »Die Versetzung Ihrer Tochter ist stark gefährdet. Wir möchten Sie zu einem persönlichen Gespräch am … um … ins Sophie-Charlotte-Gymnasium bitten.«
    Lucy hatte sich wohlweislich in ihr Zimmer verdrückt und die Musik auf Discolautstärke gedreht. Ich stürmte hinein, machte dem Lärm ein Ende und wedelte mit dem Brief.
    »Weißt du, was da drin steht?«
    Lucy zuckte desinteressiert die Schultern. »Hab ich doch schon gesagt, keine Ahnung.«
    »Du weißt verdammt genau, was da drin steht!« explodierte ich. »Und ich will wissen, was los ist.«
    Jetzt brüllte Lucy zurück. »Mich kotzt die Schule an, das ist los! Ich hab keine Lust mehr. Ich hör auf!«
    Ich holte tief Luft. Dann setzte ich meiner Tochter auseinander, was ein Leben ohne Schulabschluß bedeutete.
    Keine Ausbildung, kein Beruf, schlechtbezahlte Aushilfsjobs, womöglich Sozialhilfe, ein Ende in Schmach und Schande, wahrscheinlich im Obdachlosenheim.
    »Oder als Straßenkehrer«, ergänzte Lucy genüßlich.

    Queen Mum schaut mich über ihren Teller mit den frischkäsegefüllten Kohlrouladen hinweg an. » Daß du uns so enttäuschst, Annabelle. Du weißt nicht, wie traurig uns das macht. «
    Mein Vater nickt mit umflortem Blick. Ich bin sechzehn und habe drei Fünfen im Zwischenzeugnis.
    » Ich will Schauspielerin werden, dafür braucht man kein Abitur « , erkläre ich.
    » Ohne Schulabschluß wirst du höchstens Straßenkehrer « , prophezeit mir mein Vater. Ich kann darin nichts Bedrohliches sehen; ein Leben auf der Straße erscheint mir allemal bunter und abenteuerlicher als die Fortsetzung der verhaßten Schule. Begriffe wie Einkommen, Sozialprestige oder Aufstiegschancen kommen in meinem Weltbild noch nicht vor.

    » Ich werde Schauspielerin « , beharre ich.
    » Erstens widersprichst du nicht, zweitens wirst du nicht Schauspielerin, und drittens kriegst du ab jetzt Nachhilfe, ist das klar! «
    Mein Vater zuckt mit den Augenlidern, ich ziehe es vor, den Mund zu halten. Die nächsten fahre verbringe ich drei Nachmittage die Woche mit Frau Ebing, einer ausgemusterten Studienrätin mit Brille, Überbiß und abgestanden riechenden Pullovern aus Chemiefaser.
    Jedesmal, wenn sie mir quadratische Gleichungen oder die Ablativ-Regel erklärt, rückt sie so nahe an mich heran, daß mir übel wird und ich mich nicht mehr konzentrieren kann. Irgendwie paukt sie mich durchs Abitur.

    Bis heute hatte ich meinen Eltern Frau Ebing nicht verziehen.
    »Willst du mich so quälen, wie Omi und Opa dich gequält haben?«
    Lucy sah mich lauernd an. Dieses Biest. Sie kannte die Geschichte von Frau Ebing und dem Straßenkehrer.
    »Ich bin Omi und Opa ziemlich dankbar, daß sie mich zum Abitur gezwungen haben. Wer weiß, wie mein Leben sonst verlaufen wäre!«
    Weiß Gott, das war die Frage. Wäre es auch nur ein bißchen anders verlaufen? Würde ich heute nicht in einem bürgerlichen Vorort sitzen, zwei mehr oder minder wohlgeratene Kinder mein eigen nennen und auf eine relativ gelungene sechzehnjährige Ehe zurückblicken? Als könnte Lucy Gedanken lesen, sagte sie: »Was hat dir denn das Abi schon gebracht? Du bist kohlemäßig voll von Papa abhängig, und dein Job ist auch nur ein Aushilfsjob.«
    »Du sagst es. Da ich davon ausgehe, daß du nicht finanziell abhängig, mit zwei Gören am Hals in einer spießigen Reihenhaussiedlung enden willst, würde ich empfehlen, daß du den Arsch hochkriegst und einen Abschluß machst!«
    Damit machte ich auf dem Absatz kehrt und rauschte hinaus.
    Jonas hielt mir das schnurlose Telefon entgegen. Ich nahm den Hörer und schnauzte »Schrader!« hinein. Es war meine Mutter.
    »Was ist denn los, Anna-Kindchen? Du klingst ja wie ein Feldwebel.«
    »Ich habe gerade versucht, deine Enkelin davon abzubringen, die Schule zu schmeißen.«
    »Oh, will sie Schauspielerin werden?« fragte Queen Mum, und es klang nur ein ganz kleines bißchen sarkastisch.
    »Ach, Mummy, sei nicht schadenfroh. Ich bin schon gestraft genug.«
    »Das denkst du nur, weil du nicht weißt, worum ich dich gleich bitten werde«, hörte ich sie fröhlich sagen.
    »Wieso, was meinst du?«
    Ich setzte mich

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