Am Anfang war der Seitensprung
Wo war das aufgenommen?
Im Hintergrund sah man die verschwommene Silhouette einer Stadt, mein Vater stand an die Reling eines Schiffes gelehnt, sein Lächeln wirkte eine Spur angespannt.
Es könnte Kapstadt sein oder Neapel oder irgendeine andere Stadt am Meer. Meine Eltern waren immer viel gereist, mein Vater hatte es geliebt, Städte zu erforschen.
Von kindlichem Entdeckerdrang beseelt hatte er die Orte durchwandert, gespannt darauf, was hinter der nächsten Ecke, in der nächsten Straße auf ihn wartete.
Stundenlang konnte er Gebäude betrachten, ihre architektonischen Eigenheiten analysieren, sich an historischen Details erfreuen. Seine Welt war die, wo sich Häuser befanden, also überwiegend in Städten. Von ihm hatte ich meine heimliche Liebe zur Großstadt, die ich den Kindern zuliebe schon ziemlich lange unterdrückte.
Meine Mutter hatte das viele Umherziehen anstrengend gefunden, schon immer hatte sie Reisen nach innen bevorzugt, sich für Meditation, Selbsterfahrung und Seelenkunde interessiert. Als sie mitten im Psychologiestudium gesteckt hatte, war ich in ihr Leben geplatzt. Sicher war es viel mehr mein Vater mit seiner besitzergreifenden Art gewesen, der verhindert hatte, daß sie das Studium zu Ende brachte. Aber sie hatte es mir angelastet.
Ob sie eine gute Therapeutin geworden wäre? Vielleicht wäre sie glücklicher gewesen, wenn sie kein Kind, sondern einen Beruf gehabt hätte. Vielleicht war Muttersein gar nicht das, wofür sie gemacht war.
Vielleicht hatte sie deshalb so erbittert dagegen gekämpft, daß ich so früh, früher noch als sie, Mutter geworden war.
Die Frage war nur, ob sie Angst gehabt hatte, ich könnte ähnlich unzufrieden werden wie sie, oder ob sie vielmehr befürchtet hatte, ich könnte damit glücklich werden.
Ich wedelte unentschieden mit dem Staubtuch herum und verließ dann das Zimmer.
Ich schrubbte den Küchenboden und den
Eingangsbereich, bis ich das Gefühl hatte, für einen Samstagmorgen genug geleistet zu haben. Als ich mich gerade mit einer Tasse Kaffee und der Zeitung hingesetzt hatte, hörte ich Jonas.
»Mama, Hunger!«
Im nächsten Moment war das Rollen kleiner Gummiräder auf Fliesenboden zu vernehmen, die Tür sprang auf, zwei schmutzige, verschwitzte Kinder sausten herein.
Hinter sich ließen sie vier Dreckspuren, die sich in Schlangenlinien über den frisch geschrubbten Boden hinzogen. Lucy riß sich die neongrüne Windjacke runter und knallte sie auf den Tisch.
»Is ’n totaler Riß drin, kannst du den nähen?«
Jonas griff sich mit dreckverkrusteten Fingern eine Banane, schälte sie mit zwei schnellen Bewegungen und ließ die Schale auf den Küchentisch fallen.
»Ich hab Hunger! Gibt’s bald Essen?«
Ich holte tief Luft und brüllte los.
»Verdammt noch mal, ich bin nicht euer Dienstmädchen! Seit fünfzehn Jahren mache ich nichts anderes als hinter euch herzuputzen, es reicht mir!«
Ich packte die Obstschale, eine liebgewordene Erinnerung an einen Toskana-Urlaub, und feuerte sie auf den Boden. Sie zersprang mit einem Knall, Äpfel, Orangen und Weintrauben kullerten in alle Richtungen davon.
Erschrocken starrten Jonas und Lucy mich an. Daß ich so ausrastete, geschah selten. Ich war selbst erschrocken über meinen Ausbruch, und um die Schale tat es mir auch leid.
Mannhaft nahm Jonas seine Schwester, die ihn um drei Köpfe überragte, an die Hand und baute sich vor mir auf.
»Jetzt hast du uns schon gekriegt, Mama, jetzt mußt du uns behalten. Auch wenn wir nicht so sind, wie du willst«, sagte er mit vor Empörung zitternder Stimme.
Ich mußte mir ein Lachen verbeißen. Wie verdammt recht Jonas hatte! Warum sagt einem vorher bloß keiner, daß Kinder keine formbare Masse sind, die man nach eigenen Vorstellungen bildet und prägt, sondern eigenständige, eigensinnige, dickköpfige kleine Monster, die sich an uns festsaugen wie Vampire und so lange Kraft aus uns ziehen, bis sie alt genug sind, um den Führerschein zu machen und so schnell wie möglich das Weite zu suchen?
Als die Kinder im Bett waren, versuchte ich, die Einzelteile der Obstschale zusammenzukleben. Es war mühsam; immer, wenn zwei Teile einigermaßen hielten, verrutschte das dritte und ich konnte von vorne beginnen.
Ich dachte an den kleinen Ort in der Nähe von Siena, wo wir damals Urlaub gemacht hatten. Wie in jedem Jahr hatten wir vorher monatelang diskutiert, wohin die Reise gehen sollte; ich wollte wie immer ans Meer, Friedrich in die Berge. Die Toskana
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