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Am Anfang war der Seitensprung

Am Anfang war der Seitensprung

Titel: Am Anfang war der Seitensprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amelie Fried
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Sie küßte reihum alle Anwesenden, mischte die Zutaten ihres Bio-Öko-Ballaststoff-Müslis und schenkte sich Kräutertee ein.
    Konnte es sein, daß sie schon kurzsichtig war?
    »Schau mal, Mummy, ein Rocker hat mir ’ne dicke Lippe gehauen.«
    Triumphierend hielt ich ihr mein Gesicht entgegen.
    Jetzt mußte sie mich doch bemitleiden, ihrer Mißbilligung Ausdruck verleihen oder wenigstens nachfragen, wie es passiert war. Aber nichts von alledem kam. Sie lächelte betont nachsichtig.
    »Kind, du mußt selbst wissen, was gut für dich ist.«
    »Siehst du, Mami, das sage ich auch immer«, trumpfte Jonas auf.
    Das war doch eine Finte. Ich wußte, wie sehr sie laute Musik verabscheute, für wie primitiv sie Rockbands und ihre Fans hielt. Daß ihre erwachsene Tochter sich nachts auf Konzerten herumtrieb, fand sie garantiert genauso gräßlich wie die Tatsache, daß ihre Enkelin kürzlich kein Symphoniekonzert, sondern eine Popgruppe gehört hatte.
    Zwei Tage hatte sie geschmollt, nachdem sie es erfahren hatte.
    Ihre coole Reaktion war also nur ein Trick. Sicher wollte sie mir zeigen, wie sehr sie über den Dingen stand. Ich war die Kindische, sie die Überlegene. Hörte das denn nie auf?
    »Ich fahre übers Wochenende zu Elisabeth«, verkündete Queen Mum.
    Elisabeth war ihre älteste Freundin und meine Patentante. »Hast du ein paar aktuelle Fotos von den Kindern?«
    Ich schüttelte den Kopf. Der Film von Weihnachten war noch in der Kamera, die letzten Bilder waren aus dem Sommer. Es gab ohnehin kein Foto, auf dem Lucy nicht aussah, als wäre sie gerade zu vier Wochen Hausarrest verdonnert worden.
    Grimmig und übellaunig starrte sie in die Kamera, während Jonas Faxen machte und debile Gesichter schnitt.
    Das wollte ich Tante Elisabeth nicht antun. Sie kannte die Kinder, seit sie Babies waren, ich wollte ihre positiven Erinnerungen nicht zerstören.
    »Mal doch ein Bild für Tante Elisabeth«, forderte ich Jonas auf.
    Der fabrizierte umgehend ein giftgrünes Monster mit einem stechenden Auge, das eine schleimige, gelbe Masse absonderte.
    »Was ist denn das?« erkundigte sich Queen Mum.
    »Das ist Tante Elisabeth«, erklärte Jonas in aller Unschuld.
    In einem unbeobachteten Moment ließ ich das Gemälde verschwinden.

    Als meine Mutter abgefahren war, packte mich der Putzfimmel. Friedrich war ins Institut verschwunden, Jonas und Lucy sausten in seltener Eintracht auf ihren Rollerblades die Straße entlang, niemand würde mir im Weg sein.
    Ich saugte im ganzen Haus, schüttelte die Bettdecken auf, öffnete alle Fenster und ließ die frische Frühlingsluft rein. Vor Queen Mums Tür stockte ich. Sollte ich? Wenn ich ihr Zimmer ausließe, wäre sie vielleicht beleidigt.
    Wenn ich darin rumwischte, empfände sie es möglicherweise als unerwünschtes Eindringen. Warum wußte ich nicht einmal auf eine so einfache Frage die richtige Antwort?
    Ich öffnete die Tür und trat ein. Seit sie eingezogen war, hatte ich den Raum nicht betreten, außer um ihr zu sagen, daß das Essen fertig wäre oder jemand sie am Telefon verlangte. Dieser ekelhafte Geruch nach kaltem Rauch!
    Ich würde das Zimmer streichen müssen und die Vorhänge waschen, wenn sie wieder weg wäre.
    Sie hatte sich ganz schön häuslich eingerichtet, stellte ich fest. Sogar ein paar Bilder und Fotos hatte sie aufgehängt. Es sah nicht aus wie ein Provisorium.
    Auf ihrem Bett mit der Naturmatratze lag eine neue, blaue Tagesdecke, die Nachttischlampe erkannte ich, die hatte sie schon ewig. Ein unsägliches Siebziger-Jahre-Teil, das sicher mal sauteuer gewesen war. Meine Mutter hatte immer schon eine Schwäche für gute Qualität gehabt, aber einen schrecklichen Geschmack.
    Nicht bieder, wie andere Frauen ihres Alters, die sich mit Eichenholzmöbeln und altrosa Tischdeckchen einrichteten. Das fand ich zwar auch furchtbar, aber darauf war man irgendwie gefaßt. Nein, eher ein bißchen alternativ, teuer, aber trotzdem scheußlich.
    Im Zweifel ging ihr Zweckmäßigkeit vor Aussehen, bei mir war es genau umgekehrt. Alles, was sie besaß, war »vernünftig«. Ein vernünftiges Bett, eine vernünftige Leselampe, vernünftige Schuhe. Mein Vater, der ein ausgemachter Ästhet gewesen war, mußte ziemlich gelitten haben.
    Sein Foto hing an der Wand über dem kleinen Schreibtisch, an dem Queen Mum, auf ihrem vernünftigen, ergonomisch geformten Stuhl sitzend, Briefe schrieb oder Exzerpte der Bücher anfertigte, die sie gerade las. Ich nahm das Foto in die Hand und betrachtete es.

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