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Am Dienstag sah der Rabbi rot

Am Dienstag sah der Rabbi rot

Titel: Am Dienstag sah der Rabbi rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Kemelman
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Golda Meir?»
    Der Rabbi klopfte mit den Knöcheln auf das Pult, um Ruhe zu erlangen.
    «Und warum müssen wir dann in der Synagoge getrennt sitzen?», fragte Miss Dushkin.
    «Bestimmt nicht, weil Frauen als minderwertig betrachtet werden», sagte er lächelnd. «Das geht noch auf primitive Zeiten zurück, als bei vielen Religionen ein Gottesdienst, an dem beide Geschlechter teilnahmen, in einer Orgie endete – was völlig im Sinne der Planung war, da es um Fruchtbarkeitsriten ging. In jüngerer Zeit war man der Meinung, dass die natürliche Anziehung der Geschlechter der Konzentration auf das Gebet hinderlich wäre.» Er spreizte die Hände und sagte trocken: «Wie lange ist es her, dass die Koedukation durch die Behauptung verunglimpft wurde, Jungen und Mädchen, die in einem Klassenzimmer säßen, könnten sich nicht auf den Unterricht konzentrieren? Aber sehen Sie», fuhr er fort, «Sie machen alle den Fehler, sich Ihre Meinungen nach einzelnen kleinen Brocken von Informationen oder Fehlinformationen, statt nach Ihren Erfahrungen zu formen. Denken Sie an Ihre eigenen Familien, und dann fragen Sie sich, ob die Frauen, ihre Mütter, Großmütter oder Tanten von ihren Ehemännern oder ihren Familien als untergeordnet angesehen werden.»
    Als sie am Ende der Stunde hinausgingen, drehte sich Harvey Shacter zu Henry Luftig um. «Ich dachte, du wolltest ihm die Luft ablassen?»
    Luftig schüttelte den Kopf. «Ich weiß nicht. Ich dachte schon, wir hätten ihn in den ersten Runden in die Ecke gedrängt, aber dann hat er kolossal aufgeholt. Passt bloß auf – der Bursche kann sich als ganz harter Brocken herausstellen.»

7
    «Wie war’s?», fragte Miriam, als er am Mittwochvormittag nach Hause kam.
    «Nett», sagte er und lächelte dann. «Es hat mir Freude gemacht. Sehr große Freude sogar. Ich hab auf dem ganzen Heimweg darüber nachgedacht, Miriam, und bin zu dem Schluss gekommen, dass es wenig in diesem Leben gibt, das schöner wäre, als einem aufmerksamen Zuhörer Wissen zu übermitteln. Das ist mir schon mal aufgefallen. Damals, als wir den Ärger mit der Heizung hatten. Als der Monteur mir erklärte, wie die Heizung funktioniert und was nicht richtig war, habe ich gesehen, wie viel Freude ihm das machte.»
    «Warum denn nicht? Er hat dafür neun Dollar in der Stunde bekommen», stellte sie fest.
    Aber der Rabbi ließ sich nicht dämpfen. «Das war es sicher nicht. Es ist ein Gefühl der Überlegenheit. Ist doch klar, dass es einem gut tut, wenn man über ein Thema sprechen kann, über das man mehr weiß als andere. Und wenn dieses Wissen das Leben oder den Lebensstil eines anderen beeinflusst, ist es noch viel befriedigender. Es ist schon was dran, an diesem Ego-Trip, wie es die Studenten nennen.»
    «Ich bin nicht so sicher, David, dass sie das als etwas Gutes betrachten. Ich glaube, sie verwenden den Ausdruck eher abfällig.»
    «Wirklich? Ach, das zeigt nur, wie wenig sie wissen. Ich vermute, es gehört mit zur angelsächsischen Ethik. Beim Sport, zum Beispiel, bringt man dem Champion bei, seinen Erfolg dem Trainer, den Mannschaftsgefährten oder einfach dem Glück zuzusprechen, nur um keinen Preis der eigenen Überlegenheit. Und das ist so offensichtlich falsch. Niemand glaubt es, aber die Tradition wird beibehalten. Ich kann nur sagen, dass ich meine erste Vorlesung ganz ehrlich genossen habe.»
    «Das sehe ich», sagte sie. «Und für deine Bescheidenheit hat sie Wunder getan.»
    «Ich habe nur versucht, deine Frage zu beantworten», sagte er steif. Dann sahen sie sich an und lächelten.
    Aber Miriam war mit dem Thema noch nicht fertig. «Dabei ist das doch gar nichts Neues für dich. Du hältst jeden Freitag eine Predigt, die ja auch eine Art Vorlesung ist, und dazu noch an allen Feiertagen.»
    «Nein», sagte er, «Predigten sind was anderes. Da stellt man moralische Betrachtungen an. Übrigens soll Rabbi Lamden, nach dem, was ich gehört habe, solche moralischen Betrachtungen in seine Vorlesungen eingebaut haben. Außerdem sind die Leute, die meine Predigten anhören, auch die, die mein Gehalt bezahlen; und ich habe immer das Gefühl, sie prüfen mich, um zu sehen, ob sie auch was für ihr Geld bekommen.»
    Sie fand das lustig. «Oh, David, wie kommst du denn darauf?»
    «Im Übrigen sind sie nicht mehr flexibel. Ihr Denkschema ist eingefroren. Nichts, was ich sage, kann sie beeinflussen. Aber die jungen Leute im College, die sind noch beweglich; sie fürchten sich nicht, ihre Gedanken zu äußern.

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