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Am Dienstag sah der Rabbi rot

Am Dienstag sah der Rabbi rot

Titel: Am Dienstag sah der Rabbi rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Kemelman
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regulären Stundenplan. Wenn sie sich mit einer anderen Vorlesung überschneidet, hätten Sie diese nicht belegen dürfen.»
    «Es geht nicht ums Überschneiden –»
    «Nein?»
    «Also, ich fahre an den Wochenenden nach New Jersey nach Hause. Und ich muss früh starten.»
    Der Rabbi zuckte mit den Achseln. «Dazu kann ich nichts sagen.»
    Er schlug das Buch auf, um anzudeuten, dass er die Diskussion für beendet hielt, aber die Stimmung hatte sich verwandelt. Sogar die Studenten, die die Arbeit mitgeschrieben hatten, waren mürrisch. Seine Vorlesung litt darunter, und zum ersten Mal entließ er sie alle vorzeitig.
    Als er in sein Büro zurückkam, lag Hendryx wie üblich lang ausgestreckt in seinem Stuhl und paffte vor sich hin.
    «Wie klappt es denn, Rabbi?»
    «Ach, ich weiß nicht so recht.» In den paar Wochen, die er am College unterrichtete, hatte er Hendryx höchstens fünf- oder sechsmal gesehen, und dann nur ein paar Minuten lang vor oder nach der Vorlesung. «Ich habe etwa sechsundzwanzig Teilnehmer an meinem Kurs, auf der Belegliste sind es dreißig, aber mehr als achtundzwanzig sind noch nie gekommen.»
    «Nicht schlecht», sagte Hendryx, «im Gegenteil, verdammt gut, wenn man bedenkt, dass niemand die Studenten zwingt, daran teilzunehmen.»
    «Ach, montags und mittwochs sind auch genug da, aber am Freitag habe ich Glück, wenn ein Dutzend da sind.»
    «Um ein Uhr, am Freitag? Ich finde es erstaunlich, dass Sie noch so viele haben.»
    «Aber warum?», beharrte der Rabbi. «Ich kann verstehen, dass einer oder zwei einen Ausflug fürs Wochenende planen und gern früh losfahren wollen –»
    «Die haben alle Pläne fürs Wochenende, Rabbi. Handelt es sich um ein Mädchen, ist sie zu einem anderen College zum Footballspiel am Samstag eingeladen. Wenn sie Ihre Vorlesung besucht, ist sie erst um zwei fertig und kann kaum vor drei Uhr starten. Sie kommt also, wo sie auch hinfährt, für die Lustbarkeiten am Freitagnachmittag zu spät. Und die jungen Leute von heutzutage können es sich nicht leisten, sich irgendwelchen Spaß entgehen zu lassen. Das ist wie ein Zwang, fast wie eine Religion, könnte man sagen.»
    «Sie meinen, dass alle, die fehlen, zum Wochenende verabredet sind?»
    «Nein, nicht alle», sagte Hendryx. «Ein paar bleiben auch weg, damit ihre Freunde denken, sie hätten eine Verabredung. Andere wollen ein langes Wochenende haben. Manche – da bin ich allerdings sehr skeptisch – brauchen die Zeit, um für andere Fächer zu lernen. Das soll ja auch die rationale Erklärung für das nicht verbotene Schwänzen sein: Man hält sie für reif genug, sich ihre Zeit selber einzuteilen.»
    «Und was soll ich am Freitag tun, wenn weniger als die Hälfte meiner Studenten erscheint?»
    «Ja», Hendryx sog tief an der Pfeife, «das ist eine gute Frage. Es gibt nicht sehr viele Vorlesungen am Freitagnachmittag. Joe Browder liest um ein Uhr im Blythe-Haus Geologie. Sonst wüsste ich niemand. Um zwölf Uhr mittags ist das College verlassen; sogar das Café ist zu. Ist Ihnen das noch nie aufgefallen?»
    «Aber was soll ich denn machen?», fragte der Rabbi zäh. «Die Vorlesung nicht halten?»
    «Genau das habe ich schon erlebt. Sie sagen die Stunde nicht offiziell ab, aber ein ums andere Mal sagen Sie, Sie wären leider verhindert.» Er sah den Rabbi an, ein schwaches Lächeln lag auf seinem Gesicht. «Aber ich glaube, das würde Ihnen nicht liegen, nicht wahr?»
    «Nein, ich glaube nicht, dass ich das könnte.»
    «Und was haben Sie nun gemacht?»
    «Bisher habe ich so getan, als wäre es eine ganz normale Vorlesung. In der vorigen Woche habe ich eine Arbeit schreiben lassen, aber das wissen Sie ja.»
    «Ach, danach wollte ich Sie schon fragen. Wie viele sind denn aufgekreuzt?»
    «Nur fünfzehn.»
    Hendryx lachte vor sich hin. «Soso, nur fünfzehn, ja? Für eine einstündige Arbeit? Haben Sie heute die Hefte zurückgegeben? Sagen Sie, wie haben sie reagiert?»
    «Das macht mir ja so zu schaffen», gestand der Rabbi.
    «Viele wirkten eingeschnappt, und ein paar waren geradezu entrüstet, als hätte ich mich unfair verhalten.»
    Hendryx nickte. «Wissen Sie, warum sie entrüstet wirkten, Rabbi? Weil sie entrüstet waren . Sie waren es, weil Sie unfair waren, zumindest nach ihrem Maßstab. Sehen Sie, Ihre Vorlesung ist traditionsgemäß etwas zum Faulenzen. Darum haben sich so viele bei Ihnen eingetragen. Warum setzen Sie Ihren Ehrgeiz darein, das zu ändern, Rabbi? Warum machen Sie’s nicht wie wir anderen

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