Am Dienstag sah der Rabbi rot
Meistens sind sie natürlich falsch, aber sie beharren auf ihnen und wollen sie auch verteidigen. Da war heute ein Mädchen, anscheinend eine Vertreterin von Women’s Lib, die versucht hat, mich in die Enge zu treiben –»
«Das hätte ich gern miterlebt!» Miriam lachte.
Auch der Rabbi lachte. «Sie war gar nicht so schlecht.»
Er freute sich schon auf seine nächste Vorlesung am Freitag. Die Straße war fast leer, als er vor dem Verwaltungsgebäude anhielt. Einen Augenblick fragte er sich, ob seine Uhr vielleicht nachgehen könne, aber als er dann durch den Flur ging, hörte er Stimmen aus seinem Hörsaal. Als er die Tür öffnete, glaubte er an irgendeinen Irrtum. Nur ein kleines Grüppchen Studenten war da. Dann befiel ihn das beklemmende Gefühl, ihre Reaktion auf seine erste Vorlesung missdeutet zu haben. Er zwang sich zu einem Lächeln. «Unsere Zahl scheint sehr geschrumpft zu sein.»
Einige erwiderten sein Lächeln, und einer lieferte eine Erklärung. «Die meisten schwänzen am Freitag, um einen besseren Start zu haben.»
«Einen besseren Start? Wozu?»
«Fürs Wochenende natürlich.»
«Ja, ich verstehe.» Jetzt wusste er, warum Dean Hanbury sich wegen der Einteilung seiner Vorlesung für den Freitagnachmittag entschuldigt hatte. Aber er war aus dem Takt und wusste nicht weiter. Sollte er mit dem Stoff weitermachen oder nur rekapitulieren, damit die Abwesenden nichts versäumten? Er entschloss sich, die Vorlesung zu halten, aber es ging nicht, wie es sollte. Er kam nicht dagegen an, er war beleidigt – und er war sicher, dass die Studenten das merkten und schadenfroh seinen Ärger registrierten.
Endlich war die Stunde zu Ende, aber sein Zorn hielt während der Heimfahrt an. Glücklicherweise steckte Miriam in den Vorbereitungen für den Sabbat, und so kam es zu keiner Erörterung.
Am nächsten Montag waren alle Hörer wieder da: achtundzwanzig. Am Mittwoch auch, aber am Freitag waren es womöglich noch weniger als eine Woche zuvor: lediglich zehn. Und so setzte es sich fort: viele Hörer montags und mittwochs, freitags nur eine Hand voll.
Als sie nach einem Monat das Pentateuch abgeschlossen hatten, kündigte er eine Arbeit an – für den Freitag. Von seiner Seite aus war das eine Kriegserklärung.
«Müssen wir sämtliche Namen kennen? Soundso zeugte Soundso, meine ich?»
«Nein, aber ich erwarte doch, dass Sie bestimmte genealogische Zusammenhänge kennen. Sicherlich sollten Sie die Namen der Kinder Adams oder Abrahams wissen.»
«Könnten wir die Prüfung nicht am Montag machen?»
«Glauben Sie, dass Sie montags mehr Glück haben?»
«Nein, aber wir hätten dann das Wochenende zur Vorbereitung.»
«Sehen Sie es anders: So haben Sie das Wochenende zur Erholung.»
Am Freitag ging er noch kurz in sein Büro; Professor Hendryx sah beim Anblick der Arbeitshefte überrascht auf. «Lassen Sie gern Arbeiten schreiben, Rabbi?»
«Nein, nicht besonders. Warum?»
«Wer am Freitag eine Arbeit schreiben lässt, muss sie zweimal schreiben lassen.»
«Das verstehe ich nicht.»
«Ganz einfach. Sie müssen nicht nur die erste Arbeit zusammenstellen, hinterher lesen und mit roter Tinte kommentieren und benoten, sondern die Wiederholungsarbeit auch noch. Am Freitag können Sie höchstens mit der Hälfte Ihrer Kursusteilnehmer rechnen.»
«Oh, die werden heute schon da sein», sagte der Rabbi zuversichtlich «Ich habe es ihnen lange genug angekündigt und besonders betont, dass die Arbeit über die ganze Stunde geht und wichtig für die Note ist.»
Aber er kam in die Klasse und fand nur fünfzehn Studenten vor. Er verbrachte die Stunde wandernd, während die Studenten schrieben. Sobald einer fertig war, gab er das Heft ab und verließ eilig den Raum. Lange vor dem Klingelzeichen war der Rabbi allein im Zimmer.
Er sah die Arbeiten während des Wochenendes durch und gab sie am Montag zurück. Die Reaktion kam prompt.
«Sie haben gesagt, wir brauchten nicht zu wissen, wer wen zeugte.»
«Benjamin fällt da wohl kaum drunter. Benjamin spielt eine wichtige Rolle in der Geschichte von Joseph.»
«Wie viel zählt das bei der Endnote?»
«Das hängt von der Zahl der Arbeiten ab, die ich schreiben lasse.»
«Und sind die immer am Freitag?»
«Das kann ich nicht sagen. Wahrscheinlich.»
«Heh! Das ist unfair!»
«Wieso?»
«Weil wir – viele von uns – also, ich kann freitags nicht.»
Da war es. Er sagte kühl: «Das verstehe ich leider nicht. Die Vorlesung am Freitag gehört in den
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