Am Ende der Nacht
Kälte machte mir nichts
aus. Ich fühlte mich erstaunlich wach für jemanden, der kaum geschlafen hatte,
und erstaunlich optimistisch für jemanden, der vor kurzem noch gefürchtet
hatte, das Ende dieser eisigen Nacht nicht zu erleben.
Mit dem Optimismus kam der Hunger. Ich
öffnete das Tütchen Studentenfutter, und obwohl ich nie sonderlich auf das Zeug
gestanden hatte, genoß ich mein Frühstück. Ich biß ein Stück Trockenfleisch ab
und kaute schmatzend darauf herum, ohne mich dran zu stören, daß ich wie eine
wiederkäuende Kuh aussah. Der Himmel im Osten färbte sich violett, dann rot.
Als ich die Lichtung mit der Hütte erreichte, umgab mich bereits trübes
Dämmergrau.
Ich hatte direkt zur Holzabfuhrstraße
gehen wollen, doch beim Anblick der Hütte blieb ich stehen. Da war es wieder,
stärker denn je — dieses Gefühl, daß irgendwas nicht stimmte. Nach kurzem,
Zögern krabbelte ich die Uferböschung hinauf. Ich wußte zwar nicht, was ich
suchte, war aber nicht willens weiterzugehen, ohne mich noch einmal genauer
umgeschaut zu haben.
Ich zündete die Petroleumlampe an und
durchsuchte den kleinen Raum noch einmal. Alles war so, wie wir es verlassen
hatten. Ich leuchtete mit der Stablampe auf die Blutflecken unterm Tisch,
folgte einer Tröpfelspur zur Tür.
Beweist noch gar nichts, McCone.
Als solches jedenfalls nicht.
Ich unterteilte den Raum im Geist in
Segmente, wie ich es oft machte, wenn ich Örtlichkeiten absuchte. Studierte
jedes einzelne Segment lange und gründlich. Als ich den Tisch inspizierte,
entdeckte ich auf dem Rücken eines der Bücher des Stapels ein Klebeetikett:
»Stadtbibliothek Ely.«
Ich trat heran, griff mir das Buch mit
der Einleitung von Hys verstorbener Frau und schlug es auf. Ein Zettel fiel
heraus. Das Buch war am 20. November entliehen worden.
Das Glas, von dem Hy gesagt hatte, daß
es nach Sour Mash Whiskey roch, fiel mir ins Auge. Ich nahm es, roch an dem
eingetrockneten Bodensatz: immer noch ein leiser Hauch. Wie lange sich der
Geruch wohl hielt, nachdem das Glas geleert war? Eine Woche? Vielleicht. Über
zwei Wochen? Fraglich.
Er war hier gewesen. Vor kurzem noch.
Vielleicht sogar die ganze Zeit.
Ehe ich aus der Hütte trat, nahm ich
die 38er aus der tiefen Tasche meiner Jacke. Eine solide Waffe, und ich war
eine gute Schützin, aber gegen einen Waffennarren und geübten Jäger wie Dune
Stirling schien sie ein ziemlich läppischer Schutz. Alle Vorteile waren auf
seiner Seite, einschließlich der genauen Kenntnis dieser Wälder.
Auf der schmalen Eingangsveranda blieb
ich stehen, sah mich um und horchte. Die Äste und Zweige der Bäume rings um die
Lichtung bewegten sich im Wind, der von dem zugefrorenen See her wehte;
Schatten ballten sich zwischen ihnen. Vielleicht stand er ja gleich da drüben
und beobachtete mich. Vielleicht zielte er mit einem hochpotenten Gewehr auf
mich, hatte mich genau im Fadenkreuz...
Angst ließ meine Haut prickeln und mein
Herz rasen. Ohne es zu wollen, hatte ich mich selbst in Panik versetzt. Der
Adrenalinstoß trieb mich die Stufen hinunter und im Laufschritt um die
Seitenwand der Hütte. Kein Pfeifen in der Luft, kein Krachen, aber die Bäume
hier waren genauso dicht wie die drüben. Vielleicht —
Das ferne Brummen eines Flugzeugmotors.
Plötzlich ging mir auf, daß Stirling ja noch ein zweites Flugzeug besitzen
konnte. Ich streckte den Kopf um die Ecke der Hütte, sah die Maschine am
jenseitigen Seeufer abschwenken, in meine Richtung kommen. Ein Kufenflugzeug,
das ideale Transportmittel für Sportfischer und Jäger, die im Winter abgelegene
Camps erreichen wollten — aber in diesem saß womöglich ein Jäger ganz anderer
Art.
Ich sprintete um die Hütte und stürzte
auf den großen, rohgezimmerten Schuppen zu, der, wie ich wußte, aus der Luft
nicht sichtbar war. Im Schutz der Bäume blieb ich stehen und sah mich nach dem
Flugzeug um. Es war ein hellblauer, einmotoriger Doppelsitzer, aber den Typ
konnte ich nicht identifizieren. Es umrundete die Lichtung und kam tiefer
herunter.
Ich schlüpfte in den Schuppen.
Stockfinster hier drinnen und so kalt
wie in einem Gefrierraum. Das Dröhnen des Flugzeugmotors schwoll an, wurde ohrenbetäubend;
die Maschine mußte jetzt gefährlich tief fliegen. Ich linste durch ein Astloch,
aber alles, was ich sehen konnte, waren Baumwipfel vor dem Glühen der
aufgehenden Sonne.
Das Motorgeräusch veränderte sich
abrupt; der Pilot hatte Gas gegeben, stieg wieder hoch. Ich ließ
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