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Am Ende der Nacht

Am Ende der Nacht

Titel: Am Ende der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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hatte, als ihr Vater umgebracht worden war. Ich
streckte die Hand nach ihr aus, aber sie wirbelte herum und rannte in Richtung
Treppe.
    Ich preßte die Finger auf die Augen, um
die neuerlichen Tränen zurückzudrängen. Dann ging ich nach draußen zu Zach.
     
    Er drehte sich nicht um, als ich näher
kam, obwohl ich absichtlich laut auftrat. Als ich neben ihm stand, sah ich, daß
seine Augen starr auf die Marin-Halbinsel gerichtet waren. Ich legte ihm die
Hand auf die Schulter; trotz der Kälte zitterte er nicht. »Zach«, sagte ich,
»es tut mir leid.«
    Keine Reaktion.
    »Wir müssen reden.«
    Er schüttelte meine Hand ab.
    »Ich hatte Matty auch sehr gern.«
    Schweigen.
    »Wenn man leidet, hilft es, mit
jemandem zu reden, der aus demselben Grund leidet.«
    Er beugte sich vor, die Arme auf dem
Geländer, und starrte jetzt auf den Strand hinunter. Es war inzwischen dunkel
geworden, und nur die weißen Schaumkronen der Wellen waren erkennbar. Der Nebel
wallte heran, und der klagende Chor der Schiffshörner setzte ein. Zach
erschauerte bei dem Geräusch. Ich zog meine Lederjacke aus und legte sie ihm um
die Schultern. Dann lehnte ich mich neben ihm ans Geländer und wartete.
    »Sharon?«
    Ein einzelnes zögerliches Wort, aber
immerhin ein erster Schritt. »Ja?«
    »Haben Sie... waren Sie dabei?«
    »Ja.«
    »War es schrecklich?«
    »Es ging sehr schnell.«
    »Glauben Sie, Matty hat Angst gehabt?«
    »Ich glaube, daß sie dazu keine Zeit
hatte.«
    »Aber Sie wissen es nicht sicher.«
    »Nein, das nicht. Aber ich war auch
schon in Situationen, wo ich beinahe gestorben wäre, und ich war viel zu
beschäftigt mit Kämpfen, um Angst zu haben.«
    »Aber Sie sind nicht gestorben. Matty
wohl.«
    Darauf hatte ich keine Antwort. Gott,
in so was war ich wirklich nicht gut!
    Wir lehnten ein Weilchen schweigend am
Geländer. Dann sagte Zach: »Ich glaube nicht, daß Matty je Angst gehabt hat.«
    »Ich auch nicht.« Das war gelogen, aber
ich wollte ihm helfen, es sich einzureden. Er würde schon genug verkraften
müssen, auch ohne die quälenden Bilder, die ich selbst vor mir gesehen hatte —
und die ich nie im Leben ganz loswerden würde.
    Wieder längeres Schweigen. Dann fragte
er: »Was wird jetzt mit mir?«
    »Rae und Ricky möchten gern, daß du
hierbleibst, bis wir deinen Dad ausfindig gemacht haben. Ist dir das recht?«
    »Mir egal. Ich will nur nicht nach
Hause oder zu Onkel Wes. Oder zurück in die Schule.«
    »Das verstehe ich. Möchtest du jetzt
mit reinkommen? Es ist ganz schön kalt hier draußen.«
    »Gleich.«
    »Soll ich schon vorgehen?«
    »...Nein, bleiben Sie hier.«
    »Okay.« Ich lauschte dem Klagegeheul
der Nebelhörner und wartete, daß er weiterredete.
    »Matty hat echt nie Angst gekriegt«,
sagte er schließlich. »Einmal, da hat sie mich in der alten Cessna mitgenommen,
damit ich Fotos für ein Schulprojekt machen konnte, und auf einmal ist der
Motor ausgefallen. Sie mußte auf der Wiese landen, und sie hat mir die ganze
Zeit genau erklärt, was sie macht, damit ich nicht die Panik kriege.«
    »In Krisensituationen war sie sehr
gut.«
    »Mein Dad ist auch so. Ich habe nur ein
einziges Mal erlebt, daß er Angst hatte.«
    »Wann war das?«
    »Als meine Mom gestorben ist.«
    Ich runzelte die Stirn. Matty hatte mir
erzählt, John sei nach Los Alegres gekommen, als Zach noch ein Baby war. Ich
war davon ausgegangen, daß er seine Mutter gar nicht gekannt hatte. »Wie alt
warst du da?«
    »Etwa zwei.«
    Wenn ich’s recht bedachte, wirkte er
älter als elf. »So weit kannst du dich zurückerinnern?«
    »Hm. Dad sagt immer, ich hätte mir das
nur ausgedacht, so was sei gar nie passiert. Aber es war so. Darum will er ja
auch nicht über sie reden.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Na ja, deswegen, wie sie... wie es
war. Schrecklich, ganz schrecklich. Wie bei Matty.«
    Ich wartete.
    »Jemand hat sie erschossen. Sie kam
gerade aus dem Laden raus. Dad und ich, wir haben im Auto auf sie gewartet. Wir
haben gesehen, wie es passiert ist.«
     
    »Es ist nicht viel, woran er sich
erinnert«, sagte ich. »Nur, wie seine Mutter ihnen zuwinkt, bevor sie
erschossen wird, und wie ihn sein Vater samt Kindersitz vom Rücksitz reißt.«
    »Aber diese Details«, sagte Rae
kopfschüttelnd. »Die sind so plastisch. Ihr rosa Kleid, das Blut, der Ehering
seines Vaters, als der ihn packt, wie in Nahaufnahme, der Sand auf der Fußmatte
im Fond.«
    »Wie hat er den Supermarkt noch mal
genannt?« fragte mich

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