Am Ende der Nacht
Ricky.
»Good-bye-Markt.«
»Symbolisch vielleicht, weil er sich
dort von seiner Mom verabschieden mußte.«
Er, Rae, Hy und ich saßen am Feuer im
Wohnzimmer, wo die Vorhänge gegen den dichten Nebel zugezogen waren. Zach und
Habiba unterhielten sich jetzt, da ihre keimende Freundschaft wiederhergestellt
war, leise in der Küche, und meine ungewöhnlich stillen Nichten waren zum
Fernsehen nach unten gegangen. Anfangs hatte ich mir Sorgen gemacht, welche
Wirkung der Nachrichtenspot wohl auf sie gehabt haben mochte, aber Ricky hatte
mit ihnen geredet und mir versichert, sie seien so weit okay. Bei einem
Zoobesuch am Vormittag hatten sie sich prima mit Zach verstanden, und seine
Verzweiflung hatte ihnen mehr zu schaffen gemacht als die brutalen
Videoaufnahmen von der Szene auf dem Flugplatz. Da sie ohnehin mit zuviel
Fernsehen groß geworden waren, waren sie wohl immun gegen Katastrophen auf dem
Bildschirm, seien sie fiktiver oder realer Art.
»Interessant finde ich Seabrooks
Reaktion«, sagte ich. »Seine Frau kommt aus dem Laden und wird erschossen, aber
statt zu ihr zu laufen, schützt er seinen Sohn.«
Ricky sagte stirnrunzelnd: »Welcher
Vater würde das nicht tun, wenn dort draußen ein Heckenschütze lauert?«
»Aber Zach erinnert sich, daß sein
Vater und er im Schatten einiger Bäume ganz am anderen Ende des
Supermarkt-Parkplatzes warteten. Wie kommt Seabrook in dieser Entfernung auf
die Idee, die nächsten Schüsse könnten Zach gelten? Und warum glaubt er elf,
zwölf Jahre später, Matty und auch Zach seien in Gefahr?«
Neben mir auf dem Sofa spannte sich Hys
Körper an. Ich nahm seine Hand und rückte dichter an ihn heran. Er drückte
meine Hand, war aber mit den Gedanken woanders.
»Ich wollte, ich könnte einschätzen,
wie verläßlich Zachs Erinnerung ist«, sagte ich. »Können sich Kinder an Sachen
erinnern, die passiert sind, als sie höchstens zwei waren?«
Rae, die mit hochgezogenen Beinen in
der Ecke des anderen Sofas saß, streckte einen bestrumpften Fuß von sich und
stupste gegen Rickys Oberschenkel. »Wir haben doch hier einen Kinderexperten —
wenn man es gestern abend auch kaum hätte meinen sollen.«
Er fing ihren Fuß ein und hielt ihn
fest. »Okay, ich hatte einen kleinen Ausfall. Wer hat das nicht manchmal? Aber
auf deine Frage: Ich würde sagen, Zachs Erinnerung ist ziemlich verläßlich. Diese
Details, das sind genau die Dinge, die sich in traumatischen Situationen bei
Kindern festsetzen.« Er lächelte bitter. »Erinnerst du dich noch an die
Gutenachtgeschichten deiner Tante Clarisse?«
Tante Clarisse war eine psychisch
gestörte Frau gewesen, die so getan hatte, als liebte sie Kinder, während sie
sie in Wirklichkeit nicht ausstehen konnte. Meiner Meinung nach hatte sie eine
sadistische Ader gehabt, die die des Marquis de Sade in den Schatten stellte.
Diese äußerte sich in Gestalt gräßlich brutaler Gutenachtgeschichten, die
garantiert nächtliches Geschrei zur Folge hatten. Im Lauf ihres Lebens hatte
sie ihr Bestes getan, zwei Generationen unserer Familie psychisch zu
traumatisieren.
»Wie könnte ich sie je vergessen?«
»Eben. Als Brian knapp zwei war, haben
deine Schwester und ich die alte Clarisse endlich von den Kinderbetten
verbannt. Weiß der Himmel, warum wir so lange gewartet haben. Aber Brian kann
die Geschichte vom Wolf, der dem ungezogenen kleinen Jungen das Herz
herausreißt, bis heute Wort für Wort hersagen. Und es würde mich nicht
überraschen, wenn er auch noch manchmal davon träumt.«
»Großer Gott!« rief Rae aus.
»Ja, Red, sie war ein gemeines altes
Biest. Und noch ein Beispiel. Es rückt Charly und mich nicht gerade in ein
besonders vorteilhaftes Licht, aber die hier Anwesenden haben in dieser
Hinsicht ja ohnehin keine Illusionen mehr. Als Lisa unterwegs war und Charly
mir sagte, sie sei ›versehentlich‹ wieder schwanger geworden, flogen zwischen
uns die Letzen. Ich weiß nur noch, daß dabei eine ganze Menge Porzellan, Lampen
und Gläser zu Bruch gingen. Ich kann dir nicht sagen, was genau, aber Molly —
die damals zwei war — kann dir mit Leichtigkeit eine vollständige Liste
liefern.«
»Verstehe.«
Hy sagte: »Also ist Zachs Erinnerung
vermutlich richtig. Was mich zu dem Schluß bringt, daß John Seabrook damals
etwas getan hatte, was seine Lamilie in Gefahr brachte.«
Ich nickte. »Und nachdem seine Lrau
umgebracht worden war, hat er sich und Zach neue Identitäten gebastelt und sich
in Los Alegres versteckt.«
»Versteckt —
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