Am Ende der Nacht
Gewohnheiten
und an ihre alten Stammplätze zurückkehrten. Sie wurden erkannt und umgelegt.
Ich will Ihnen ein Beispiel erzählen:
eine nette Frau mittleren Alters, ledig, Buchhalterin, mit engen familiären
Bindungen, einem regen Sozialleben, ehrenamtlichem Engagement. Sie entdeckte,
daß eine Firma, bei der sie einen Zeitjob hatte, massive Geldwäsche beging, und
kam mit der Information zu uns. Die Drohungen setzten schon vor dem Prozeß ein,
und danach beantragte sie dauerhaften Schutz. Die Marshals siedelten sie aus
Virginia nach Neumexico um. Der einzige Job, den sie sich ihr zu suchen
bequemten, war der als Verkäuferin bei einer Pizzakette. Sie mieteten ihr ein
schäbiges Apartment und erklärten ihr, jetzt sei sie auf sich gestellt. Sie
ging zur Arbeit, verkroch sich abends und am Wochenende in ihrer Wohnung,
schloß keine Freundschaften, machte gar nichts.
Nach einer gewissen Zeit setzten ihr
die Isolation und Entwurzelung zu. Den zuständigen Deputy Marshai kümmerte das
nicht weiter. So was kommt vor. Er stellte sie vor die Wahl, sich mit der
Situation abzufinden oder aus dem Programm auszuscheiden. Schließlich rief sie
mich an und fragte, ob ich die Marshals überreden könne, sie woandershin
umzusiedeln oder ihr wenigstens einen besseren Job zu beschaffen. Ich konnte es
nicht, und sie muß das wohl ebenfalls als Gleichgültigkeit gedeutet haben, denn
sie rief nie wieder an. Sechs Wochen später verstieß sie gegen die Regeln und
besuchte ihre Familie in Virginia — der Gefahrenzone. Die Marshals kamen
dahinter und schlossen sie aus dem Programm aus. Sie kehrte nach Hause zurück
und wurde keine vier Wochen später auf offener Straße erschossen, als sie auf
dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch war.«
»Das ist ja schrecklich!«
»Ja. Und es ist kein Einzelfall. Und
noch schlimmer ist, daß dieser Abschaum da draußen — der sich zum Teil in den
besten Kreisen bewegt — nichts dabei findet, Menschen wie sie abzuknallen. Und
das Allerschlimmste ist, daß die Justizbehören nichts dagegen tun können oder
manchmal auch gar nichts tun wollen.«
»Wie meinen Sie das — nichts tun
wollen?«
Er sah in sein Glas und murmelte nach
einer kurzen Schweigepause: »Gott, warum mache ich das?«
Ich wartete.
Er sah mich wieder an, und jetzt
erkannte ich, was ich vorher schon in seinen Augen gesehen hatte: Gereiztheit,
Zorn und eine gewisse Leere.
»Sharon, Sie sind die letzte, der ich
erzählen sollte, was ich zu erzählen im Begriff bin — und vielleicht tue ich es
ja genau deshalb. Versuchen Sie dran zu denken, daß dieses Gespräch nie
stattgefunden hat.«
Ich nickte.
»Jedes Jahr werden nahezu
hunderttausend Kriminalsachen von verschiedenen FBI-Stellen an die
Justizbehörden weitergegeben. Die Justizbehörden prüfen sie und verfahren damit
— indem sie Anklageerhebung beschließen oder auch nicht. Was glauben Sie,
welcher Prozentsatz dieser hunderttausend Fälle ohne Anklageerhebung ad acta
gelegt wird?«
»Keine Ahnung.«
Ȇber sechzig Prozent. Gut, manche sind
geringfügig, oder es gibt schwerwiegende Probleme mit der Beweislage oder den
Zeugen. Aber andere —«
Uns gegenüber in der Sitznische hatte
sich ein Paar niedergelassen. Morland rutschte die Sitzbank entlang, bis er
direkt neben mir saß. Er legte seine Hand auf meine und sprach so leise, als
hätten wir ein trauliches Stelldichein. »Nehmen wir mal einen hypothetischen
Fall. Sagen wir, unser Einsatzbüro in San Francisco hat gegen einen
Geschäftsmann ermittelt, der zufällig einer der Hauptwahlkampffinanciers des
Präsidenten war. Den Namen des Präsidenten können Sie je nach Ihrer politischen
Ausrichtung einsetzen. Jedenfalls, wir können hieb- und stichfeste Beweise
dafür beibringen, daß der Geschäftsmann in Drogentransaktionen verwickelt ist.
Die Sache geht an den zuständigen Staatsanwalt, und der beschließt nach
entsprechender Prüfung, trotz der klaren Beweislage keine Anklage zu erheben.
Was glauben Sie, wieso?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Deshalb, weil der Geschäftsmann seinen
Senator angerufen hat, dem er ebenfalls eine ordentliche Wahlkampfspende hat
zukommen lassen. Der Senator hat einen netten kleinen Telefonplausch mit dem
Oval Office geführt. Das Oval Office wiederum hat den Justizminister angerufen,
der vom Präsidenten ernannt wird und diesem rechenschaftspflichtig ist. Und
schwupp, erhält der Staatsanwalt in San Francisco Weisung, die Sache
fallenzulassen oder sich nach einem neuen Job
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