Am Ende der Treppe, hinter der Tür (German Edition)
Tür aufbekommt. Eine Axt, einen Hammer. Eine Schneeschaufel. Irgendein Gerät.
Stöhnend richtet sie sich wieder auf und tastet die Wand gegenüber ab. Stößt an einen großen Kasten. Nein, kein Kasten. Ihr Zeigefinger fährt über geriffeltes Glas. Es ist ein alter Küchenschrank. Martha zieht eine der Türen auf. Wieder fühlt sie Glas. Bauchiges Glas und porösen Gummi. Einmachgläser. Sie hebt eins hoch, es ist schwer. Sie stellt es vor die Tür und zur Sicherheit noch eins. Wenn Miller zurückkommt, wird sie ihm ein Glas an den Kopf werfen. Aber ihr ist klar, dass sie nur einen Versuch hat. Nicht mehr. Vielleicht kommt er ja gar nicht zurück. Vielleicht lässt er sie in diesem Loch verrecken. Hier findet sie kein Mensch. Selbst wenn Poppy sich in Sicherheit bringen konnte, wenn sie von jemandem aufgegriffen wurde, der die Polizei benachrichtigt und dann Johannes und Constanze, selbst dann ist nicht klar, ob Poppy sagen kann, was passiert ist. Ob sie erzählen wird, dass sie bei dem Mann war, der in Marthas Schule mit ihr Englisch gesprochen hat. Martha fällt ein, was Johannes von dem Unfall berichtet hatte, dass Poppy über ein Jahr lang kein Wort darüber verloren hat. Was ist, wenn sie jetzt auch nichts sagt?
Wie lange kann Martha hier unten durchhalten, ohne Essen und Trinken? Ihr fallen die Weckgläser ein, aber lieber verdurstet und verhungert sie, als dass sie sich von irgendeinem Obst ernährt, das Millers Mutter vor hundert Jahren eingekocht hat.
Martha besteht nur noch aus Schmerzen. Bei der kleinsten Bewegung brennt der Schnitt im Arm wie Hölle. Ihr Rücken fühlt sich an, als sei er in der Mitte durchgebrochen. Aber noch unerträglicher ist der Gedanke daran, dass Miller Poppy erwischt haben könnte. Dass er sie gerade jetzt in diesem Augenblick …
Sie hört ein Wimmern wie von einem verletzten Tier und merkt erst nach einer Weile, dass sie es ist, die diese Jammerlaute ausstößt.
Dann kriecht sie über den Boden zu dem Schlitten und lässt sich vorsichtig auf dem harten Holz nieder.
Unvorstellbar, dass Miller ihn jemals benutzt hat. Dass er ein kleiner Junge war, der im Volkspark juchzend mit all den anderen Kindern den Hügel am Ententeich runtergerutscht ist.
Wieder muss sie an Poppy denken. Tränen laufen ihr über das Gesicht. «Wenn ich hier lebend rauskomme, geh ich mit dir rodeln», flüstert sie. «Ganz bestimmt.»
29.
M artha weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, ob es Minuten oder Stunden sind. Auf ihrer Uhr kann sie nichts erkennen. Und ihr Handy liegt zu Hause auf dem Schreibtisch. Neben ihrem Hausaufgabenbuch. Wenn sie jetzt an all die Herzchen denkt, die Initialen von Miller und ihr, die sie da hineingekritzelt hat, schämt sie sich. Sie schämt sich so wie noch nie in ihrem Leben. Und sie sehnt sich zurück. Zurück in dieses Zimmer, das sie noch vor kurzem unbedingt verlassen wollte. Dabei ist es so schön. Es ist schön, dass früh am Morgen die Sonne hereinscheint und in einem Strahl durch den Raum wandert, um schließlich auf ihrem Bett zu landen und sie im Gesicht zu kitzeln. Und wie beruhigend die Geräusche, wenn Johannes in der Küche mit den Töpfen klappert, Poppy durch die Wohnung trampelt, die Tür zu ihrem Zimmer aufreißt und «Maahta, Maahta!» ruft. Wieso hat sie sich so dagegen gewehrt? Wenn sie ehrlich ist, dann ist das neue Leben mit Poppy und Johannes gar nicht so schlecht. Sicher, sie hat ihre Mutter nicht mehr für sich allein, aber das gibt ihr auch Freiheiten. Warum war sie nur so schrecklich verbohrt? Sie würde alles dafür geben, wenn sie die Zeit zurückdrehen könnte. Niemals hätte sie mit Poppy auf den Spielplatz gehen dürfen, um das Lösegeld zu holen, ach was, sie hätte niemals Miller erzählen dürfen, dass sie Zeugin des Mordes an Frau Dr. Dernburg gewesen ist. Wann ist das alles nur so schrecklich aus dem Ruder gelaufen? Sie weiß es: Von dem Zeitpunkt an, als Miller in die Klasse kam und sie sich in ihn verliebt hat. Denn wenn sie das nicht getan hätte, wäre sie nie in die Theater- AG gegangen, und dann wäre auch das mit dem Paket nie passiert.
Ob ihre Mutter inzwischen zu Hause ist? Bestimmt wird sie versucht haben, sie auf dem Handy zu erreichen. Sie wird sich Sorgen machen. Martha sieht das von Kummer gezeichnete Gesicht ihrer Mutter vor sich und schluchzt laut auf.
Wenn sie nur wüsste, dass Poppy in Sicherheit ist, dann wäre alles nicht so schlimm. Aber vielleicht liegt sie jetzt gerade betäubt und missbraucht
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