Am Ende der Treppe, hinter der Tür (German Edition)
ihrer Rolle. Schließlich fragt sie: «Wer kommt denn bei dir zur Aufführung?»
«Meine Mutter natürlich.»
«Und was ist mit ihrem Freund? Den hätte ich ja gern mal gesehen.»
«Der wollte vielleicht auch kommen. Zu sehen gibt’s bei dem aber nicht viel, vor allem nicht auf dem Kopf.» Martha kichert, dann fällt ihr etwas ein. Wenn Johannes kommt, wer passt dann auf die Nervensäge auf? Nein, Johannes muss zu Hause bleiben und Poppy natürlich auch. Martha will, dass nur ihre Mutter dabei ist, sonst niemand. Seit sie bei der Glatze wohnen, hat sie ihre Mutter kaum noch für sich allein. Okay, Constanze hatte Martha am Wochenende angeboten, mit ihr etwas zu unternehmen, aber Martha war es wie ein Almosen erschienen, und das wollte sie nicht. Ihre Mutter soll ihr zeigen, wie wichtig Martha für sie ist, und ihr nicht zwischen Tür und Angel ein armseliges Häppchen hinwerfen: «Wenn du magst, können wir ja mal ins Kino gehen. Oder Sushi essen.» So nicht!
«Hey, Martha-Mäuschen, träumst du noch, oder lebst du schon?», fragt Jill und lacht über ihren eigenen Witz. Sie sind vor Jills Haus angekommen. «Bis morgen dann.»
«Bis morgen», sagt Martha und schlägt den Weg zur U-Bahn ein.
Es ist kalt geworden, viel zu kalt für Mitte September. Der Wind treibt die ersten Blätter über die Straße. Martha hält sich den Kragen ihrer Jacke zu. Sie muss an Weihnachten denken. Sie will nicht mit Johannes und Poppy zusammen feiern, auf gar keinen Fall! Sie hört schon Poppys aufgeregtes Quietschen und Kreischen, wenn sie die Geschenke auspackt. Womöglich muss sie der Kleinen auch was schenken. Einen Schnuller kann sie haben, denkt Martha grimmig. Den braucht sie auch, wenn sie so weitermacht, bleibt von ihrem Daumen bald nur der Knochen übrig.
Martha hat schon oft Weihnachten allein mit ihrer Mutter verbracht, immer dann, wenn ihr Vater auf Recherchereise gewesen war. Gemütlich war das. Sie hatten den Baum geschmückt, ein Huhn in den Ofen geschoben und so getan, als sei es ein Gänsebraten. Nach der Bescherung hatten sie zusammen auf dem Sofa gesessen und Fernsehen geschaut, so lange, bis Martha irgendwann eingeschlafen war. Am ersten Weihnachtsfeiertag hatten sie gewartet, bis Marthas Vater von weit her angerufen hatte, danach waren sie spazierengegangen und irgendwo eingekehrt. Wenn Martha ehrlich ist, hat sie ihren Vater Weihnachten gar nicht vermisst. Es war nie so richtig gemütlich und entspannt, wenn er dabei war. Er wollte immer, dass alles perfekt ist, hatte einen viel zu großen Baum gekauft, der dann nicht in den Weihnachtsbaumständer passte. Hatte geflucht und noch mehr geraucht als sonst. Dann hatten ihre Eltern gestritten, weil Constanze fand, dass er auf dem Balkon rauchen sollte. Türenschlagend war Marthas Vater in seinem Arbeitszimmer verschwunden und irgendwann wieder herausgekommen. Dann hatte er eine Fahne gehabt und –
Die Bahn kommt. Martha steigt ein und presst ihr Gesicht an die zerkratzte Scheibe. Ihre Nase hinterlässt einen Abdruck, der aussieht wie eine Hundenase. Sie hat sich immer einen Hund gewünscht. Einmal hatte ihr Vater einen mitgebracht. Einen Streuner, den er in Griechenland aufgegriffen und unter seiner Jacke versteckt mit nach Deutschland genommen hatte. Martha weiß noch genau, dass sie vor Freude fast außer sich gewesen war, aber die Freude hatte nicht lange angehalten. Kurz nach Weihnachten war ihr Vater wieder zu einer seiner langen Reisen aufgebrochen, der Hund war viel allein gewesen und hatte in der Zeit die Wohnung verwüstet. Es war ihm nicht beizubringen gewesen, sein Geschäft nicht mitten auf dem Wohnzimmerteppich zu machen, und als er zu allem Übel auch noch Martha in die Hand gebissen hatte, hatte ihre Mutter ihn ins Tierheim gebracht. Martha hatte geweint, aber nicht so sehr um Diego – so hatte sein Vater den Hund getauft –, sondern weil sie schrecklich enttäuscht gewesen war.
Enttäuscht ist sie jetzt auch. Sie hatte mehr Begeisterung von Miller erwartet. Aber sie darf nicht vergessen: Er ist Lehrer! Er darf sie nicht anders behandeln als die anderen. Und dann spürt sie wieder seine Berührung in ihrem Rücken. Sie fährt sich über die Stelle, schließt die Augen und stellt sich vor, es wäre seine Hand, nicht ihre.
9.
A ls Martha am Donnerstag aus der Schule kommt, ist ihre Mutter bereits zu Hause. Das ist nicht ungewöhnlich, aber am Küchentisch ihr gegenüber sitzt ein fremder Mann. Er hat unangenehm helle, fast stechende
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