Am Ende der Treppe, hinter der Tür (German Edition)
Verdächtigen gibt, ist nicht bekannt.
Martha faltet die Zeitung zusammen und gibt sie Jill zurück.
«Kannst also beruhigt sein, die haben nichts.»
«Noch nicht», sagt Martha.
«Pass auf, du wartest jetzt erst mal ab. Mit jedem Tag, den ein Mörder nicht gefasst wird, sinkt die Chance, dass man ihn überhaupt findet.»
«Wieso kennst du dich mit … mit Verbrechen so gut aus?», fragt Martha. Sie weiß nicht, ob sie Jill dafür bewundern soll oder nicht.
Jill zuckt mit den Schultern. «Ich lese eben Krimis.»
«Und wenn ich gewartet hab, was mach ich dann?»
«Wenn die Polizei bis Anfang nächster Woche niemanden festgenommen hat, dann schlagen wir zu. Nicht wir, du natürlich», sagt Jill.
«Aber wie denn?» Schon bei dem Wort
zuschlagen
wird Martha ganz anders.
Jill wedelt mit der Zeitung. «Dieser Artikel steht doch auch im Internet, stimmt’s?»
Martha liest keine Zeitung im Internet, eigentlich liest sie überhaupt keine Zeitung. Aber sie nickt.
«Und zu den Zeitungsartikeln im Netz kann man meistens einen Kommentar hinterlassen. Den liest dann der Mörder und kann darauf reagieren.»
Martha versteht kein Wort. «Aber wie … ich meine …»
Jills schräge grüne Augen werden noch schräger, sie mustert Martha, als wäre sie ein Kleinkind, dem man erklären müsste, wo hinten und vorn ist.
«Stell dir vor, du begehst ein Verbrechen, dann würdest du doch alles, was darüber irgendwo geschrieben wird, wissen wollen, oder nicht?»
Martha nickt.
«Und heutzutage muss man nicht mal mehr alle Zeitungen kaufen, man schaut einfach ins Internet und kann jeden Artikel lesen. Manchmal schreiben dann Leute einen Kommentar dazu:
Alle Mörder lebenslänglich in den Knast!
Oder
Kinderschänder Rübe ab!
So was in der Art. Du schreibst auch einen Kommentar, dem der Mörder – und nur der Mörder! – entnehmen kann, dass du mehr weißt als das, was in der Zeitung steht. Dem muss er dann natürlich nachgehen.»
«Aber ich verstehe trotzdem nicht, was genau ich machen soll», sagt Martha.
«Wir verschaffen dir eine elektronische Identität, mit der du mit dem Mörder in Kontakt treten kannst.»
«Nein!», ruft Martha entsetzt. «Nein, auf gar keinen Fall. Das will ich nicht!»
Jill sieht sie kopfschüttelnd an. «Ach, Martha-Maus, so eine Chance bekommt man nur einmal im Leben. Aber wenn du das Geld nicht brauchst, umso besser.»
Es klingelt, die Pause ist zu Ende.
«Ich muss zu Französisch», sagt Jill und wirft ihre Tasche über die Schulter. «Überleg’s dir. Wenn du Hilfe brauchst, melde dich.»
Als Martha nach der Schule nach Hause kommt, hat sie zum ersten Mal Angst so ganz allein in der Wohnung. Der Gedanke, dass direkt über ihr ein Mord geschehen ist, jagt ihr einen Schauer nach dem anderen über den Rücken. Und wenn das nun ein Wahnsinniger ist, der nacheinander alle Bewohner im Haus abschlachtet? Nein, nein. Der Mann hatte die Dernburg gekannt, sie hatten sich gestritten. Der würde hier bestimmt nicht noch einmal auftauchen. Und wenn doch?
Wieder muss sie an Jills Vorschlag denken. Fünfzigtausend Euro sind viel Geld, damit könnten sie ein paar Jahre mietfrei wohnen. Aber wie soll Martha ihrer Mutter erklären, woher das Geld kommt?
Jill hätte bestimmt wieder eine Idee. Aber Martha wird beweisen, dass sie auch nicht nur blöd ist. Sie könnte das Geld ja gefunden haben, aber so wie sie ihre Mutter kennt, bringt die das sofort zur Polizei. Nein, ihre Mutter wird das Geld nur behalten, wenn sie meint, ein Recht darauf zu haben.
Natürlich! Sie kann das Geld ja erben, im Nachhinein sozusagen. Es ist ein Vermächtnis ihres Vaters. Martha wird ganz heiß bei dieser Idee, das ist perfekt. Als Journalist war ihr Vater Freiberufler, und wer weiß, wofür und von wem er alles Honorare bekommen und nicht bei der Steuer angegeben hat. Martha erinnert sich, dass ihr Vater immer gestöhnt hatte, wenn es darum ging, die Steuererklärung zu machen. «Die ziehen einem armen Mann noch das letzte Hemd aus», hatte er oft gesagt. Dabei war er gar nicht so arm gewesen. Jedenfalls nicht immer. Manchmal hatte er Martha und Constanze groß eingeladen, in teure Restaurants, und er hatte Champagner bestellt, auch für Martha. Ihrer Mutter war das nie recht gewesen. Martha hatte sie dann immer unmöglich gefunden und ihrem Vater insgeheim recht gegeben, wenn er sie «Spielverderberin» nannte. Aber es hatte auch Tage gegeben, an denen er Martha um ein paar Euro anbettelte, um sich Zigaretten kaufen
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