Am Ende der Treppe, hinter der Tür (German Edition)
auszublenden, dass Poppy unter den Zuschauern ist und jeden Moment die Aufführung stören kann.
«Hey, there! Stella, Baby!»
«Don’t holler at me like that», ruft Martha ehrlich erschrocken.
Miller wirft ihr ein Paket zu, das Martha vorher noch mit dunkelroter Farbe bemalt hat, damit jeder sieht, dass es blutiges Fleisch enthält.
«Stanley! Where are you going?»
«Bowling!»
«Can I come watch?»
«Come on.»
Martha und Miller gehen nach hinten, wo Jill bereits auf ihren Auftritt wartet. Ihre Augen glühen fiebrig, sie achtet gar nicht auf Martha, sondern wirft sich ihre Federboa um die Schultern und schreitet wie eine Königin auf die Bühne.
Miller nimmt ein Glas Wasser und stürzt es hinunter.
«Als ich das letzte Mal auf einer Bühne stand, war ich der Maikäfer in Peterchens Mondfahrt», sagt er. «In der dritten Klasse.»
Martha kann nichts sagen, sie muss ihn immer wieder anschauen. In dem kurzärmligen Bowlinghemd sieht er so unglaublich jung aus. Martha hört, wie Jill sagt: «I’m looking for my sister, Stella DuBois. I mean – Mrs. Stanley Kowalski.»
Jetzt muss sie gleich wieder auf die Bühne. Sie streicht sich über den Rock und holt tief Luft.
«Hab keine Angst», sagt Miller dicht an ihrem Ohr. «Du bist gut.»
Er hat recht. Als sie am Ende der dritten Szene oben auf der Treppe steht und Stanley verzweifelt zu ihr hochruft, da kommen ihr wirklich die Tränen, genau wie es in der Regieanweisung steht. Der triumphierende Laut, den sie ausstößt, als er vor ihr auf die Knie geht und seinen Kopf in ihren Schoß presst, der scheint von einer Fremden zu kommen. Nicht von einem jungen, unsicheren Mädchen, sondern von einer erwachsenen, begehrenswerten Frau.
Martha streicht Miller zärtlich über die Haare, sie möchte die Zeit anhalten, dieses Bild, dieses Gefühl für alle Zeiten einfrieren. Und sie hasst Blanche regelrecht, als die jetzt auftaucht und mit ihrem
Where is my little sister? Stella? Stella?
die Idylle gnadenlos zerstört. Zum ersten Mal vergisst Martha, dass sie die Stella nur spielt, nein, sie ist Stella. Sie ist diese junge Frau, die ihren Mann abgöttisch liebt, ihm verfallen ist, die ihr erstes Kind erwartet, und als sie die Wahl hat zwischen ihrer Schwester und Stanley, da entscheidet sie sich natürlich für ihren Mann, auch wenn er sie schlägt, auch wenn er ihre Schwester vergewaltigt.
Nur ein einziges Mal hat sie einen Hänger, aber Miller souffliert ihr.
Sie haben beschlossen, das Stück ohne Pause durchzuspielen, um Blanches immer schneller werdenden Sturz in den Untergang nicht zu unnötig zu unterbrechen.
Der Applaus ist überwältigend. Gerechterweise bekommt Jill den größten Beifall. Sie muss zehnmal an die Rampe, es fehlen nur noch die Blumensträuße, die von glühenden Verehrern auf die Bühne geworfen werden.
Aber das wird schon noch kommen, denkt Martha. Sie kann neidlos zugeben, dass Jill großartig gespielt hat.
Während sie sich noch verbeugen, kommt ein elegant gekleideter Mann vor an die Bühne und schwenkt eine Digitalkamera. «Phantastisch, Jill, einfach phantastisch, ich hab alles aufgenommen.»
Martha spürt, wie Miller neben ihr in der Bewegung erstarrt. «Wer sind denn Sie?»
«Das ist mein Vater», sagt Jill. «Er hat das Stück gefilmt.»
«Wozu?», fragt Miller. Martha sieht, dass er unter der Schminke blass geworden ist. «Stellen Sie das ins Netz, oder was?»
Jills Vater winkt ab. «Nein, nein, das ist zu rein privaten Zwecken.»
«Für meine Bewerbung an der Schauspielschule», sagt Jill.
Miller entspannt sich. «Da bin ich aber erleichtert. Das Problem ist nämlich, dass wir das Stück ohne Genehmigung aufführen. Ich hab keine Lust, wegen Urheberrechtsverletzung belangt zu werden. Sie verstehen?»
Jills Vater grinst. «Na klar verstehe ich das. Aber keine Angst, das bleibt unter uns.»
Als Jill in die Garderobe kommt, leuchtet sie von innen wie eine Lampe.
«Gratuliere!», sagt Martha und umarmt sie. «So gut warst du in keiner Probe.»
«Du warst aber auch nicht schlecht, Martha-Maus», sagt Jill und tätschelt ihr den Arm. «Und ich muss ja zugeben, sogar Miller war richtig gut. Vor allem ist sein Englisch besser als das von Simon. Sehr viel besser.»
Sie sitzen nebeneinander an dem improvisierten Schminktisch und fahren sich mit Wattebäuschen über ihre Gesichter, sie lächeln sich gegenseitig zu, glücklich, alles überstanden zu haben.
Miller, wieder in Jeans und grauem Pulli, tritt zu ihnen und
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