Am Ende der Treppe, hinter der Tür (German Edition)
sie schweißgebadet. Ihre Kieferknochen schmerzen, als habe sie wirklich geschrien, aber wahrscheinlich hat sie nur wieder die Zähne zusammengebissen, das tut sie oft im Schlaf.
Wieder sieht sie die entsetzliche Fratze vor sich. Sie will mit dieser Mordgeschichte nichts mehr zu tun haben.
Sie wird Jill sagen, dass sie dieses Erpresserding so schnell wie möglich vergessen soll.
Als Martha zum Frühstückstisch kommt, fragt ihre Mutter: «Was ist denn mit dir los, mein Schatz, du bist ja ganz blass.»
Die Glatze sieht sie prüfend an. «Ist dir schlecht? Musstest du dich übergeben?»
Jetzt, wo er sie fragt, ist Martha wirklich schlecht, sie sieht das glibberige Spiegelei auf seinem Teller, riecht den Kaffee und stürzt ins Bad. Würgt bittere gelbe Galle hervor, im gleichen Moment spürt sie, wie es in ihrem Darm rumort. O nein, jetzt hat sie sich auch noch angesteckt!
Ihre Mutter klopft an die Badezimmertür. «Kann ich dir helfen?»
Martha möchte
nein
sagen, aber schwallartig schießt wieder Galle aus ihrem Mund.
Eine Stunde später liegt sie mit einer Wärmflasche im Bett und möchte nur noch sterben. Dass einem so schlecht sein kann! In regelmäßigen Abständen übergibt sie sich in den Eimer neben ihrem Bett. Ihr Kopf schmerzt, ihr Körper fühlt sich an, als sei ein Lkw mehrmals darübergefahren.
Constanze kommt mit dem Telefon ins Zimmer. «Es ist Jill, sie hat dich auf dem Handy nicht erreicht, soll ich ihr sagen, dass du krank bist?»
Martha nickt, sie kann jetzt nicht sprechen. Mit niemandem.
Als Martha aufwacht, ist es schon Nachmittag, sie hat vier Stunden geschlafen. Ihr Kopf schmerzt immer noch, sie fühlt sich fiebrig, aber immerhin scheint ihr Magen sich etwas beruhigt zu haben.
«Poppy geht’s auch schon besser», erzählt ihre Mutter, die mit Tee und Zwieback in ihr Zimmer kommt. «Aber dafür liegt jetzt Johannes flach.»
«Ich hoffe, er benutzt das Gästeklo», sagt Martha.
«Es ist seine Wohnung, vergiss das bitte nicht.»
Nun ist ihre Mutter wieder sauer.
«Versprich mir, dass wenigstens du gesund bleibst, Mama», sagt Martha und greift nach Constanzes Hand.
«Muss ich ja wohl, wer soll sich denn sonst um euch alle kümmern.» Ihre Mutter lächelt müde. «Ach übrigens, Jill hat inzwischen bestimmt dreimal angerufen. Du sollst sie unbedingt zurückrufen. Sie klang sehr aufgeregt.»
«Ich melde mich gleich bei ihr», sagt Martha und wartet, bis ihre Mutter das Zimmer verlassen hat, bevor sie nach ihrem Handy greift.
«Wir haben ihn!», ruft Jill, als Martha sich meldet.
«Das von wegen in der Hölle schmoren kann doch jeder geschrieben haben», sagt Martha.
«Das meine ich doch nicht!», sagt Jill. «Ich meine den Kommentar von heute Vormittag.»
«Da hab ich gekotzt», sagt Martha.
«Hast du deinen Laptop in Reichweite?», fragt Jill.
«Nein, der steht auf dem Schreibtisch.»
Das ist gelogen, er liegt neben dem Bett, aber Martha fühlt sich viel zu schwach, um ihn anzustellen.
«Dann lese ich es dir vor», sagt Jill. «Da schreibt einer, der sich Homer nennt:
Mit Schreien ist das so eine Sache. Manche geschehen aus Verzweiflung, und andere hängen im Museum
. Na, was sagst du nun?»
«Homer?», fragt Martha.
«Homer, genau. Alter Grieche, der Typ, der die Odyssee geschrieben hat. Aber egal, wie er sich nennt. Er ist es, ich weiß es!»
«Aber es gibt viele Menschen, die das Bild von Munch kennen», wirft Martha ein und fegt Zwiebackkrümel vom Bett.
Jill übergeht ihren Einwand. «Ich hab mir schon überlegt, was wir ihm schreiben, und zwar –»
«Jill!», sagt Martha und spürt, wie eine neue Welle von Übelkeit in ihr hochsteigt. «Ich kann das nicht, ich will das auch nicht …»
«Du bist krank, das verstehe ich, dann überlass das einfach mir und kurier dich aus. Meinst du, dass du morgen zur Schule kommst?»
«Glaub nicht», sagt Martha. Ihr ist eingefallen, dass sie für morgen noch Mathe machen müsste.
«Ich komme dann nach der Schule vorbei und sag dir, was war.»
«Von mir aus», sagt Martha und schließt die Augen. Das ist wieder so typisch Jill. In manchen Dingen ist sie wie ein Terrier, wenn der sich einmal festgebissen hat, lässt er nicht mehr los. Es muss in der fünften oder sechsten Klasse gewesen sein, da hockte vor dem Biomarkt an der Bundesallee immer ein Mann und bettelte. Den ganzen Tag, bei Regen und Wind kniete er auf einer Zeitung und hielt allen Passanten einen zerdrückten Pappbecher hin. Martha war ihm immer aus dem Weg
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