Am Ende der Treppe, hinter der Tür (German Edition)
sie am Freitagabend angeschaut hat. Gut, das war in seiner Rolle als Stanley, aber diese Leidenschaft konnte er nicht nur gespielt haben. Sie hat es gespürt, so deutlich gespürt, dass sie ihm nicht gleichgültig ist, dass er mehr für sie empfindet. Viel mehr, als ein Lehrer für eine Schülerin empfinden sollte.
Es klingelt. Sie geht zur Tür, öffnet und zuckt zurück. Miller steht davor. «Hab ich dich erschreckt?», fragte er mit einem traurigen Lächeln.
«Nein, nur überrascht», sagt sie.
«Du warst heute nicht in der Schule, ich hab mir Sorgen gemacht.»
Ihr wird schwindlig, aber nicht etwa weil sie sich noch schwach fühlt. Im Gegenteil, sie fühlt sich so stark wie noch nie.
«Besuchen Sie alle Schüler, wenn sie mal einen Tag nicht in die Schule kommen?», fragt sie.
«Du weißt genau, dass ich das nicht tue», sagt Miller, und seine Augen brennen vor unterdrückter Leidenschaft. «Warum quälst du mich so?»
«Möchten Sie einen Kaffee oder einen Tee?», fragt sie, als wäre Miller ein Besuch wie jeder andere.
Er schüttelt den Kopf. «Nein, ich möchte nichts, nur mit dir reden.»
«Über was denn?» Sie bleibt an der Tür stehen, die Arme über der Brust verschränkt.
«Über dich, nein, über uns.» Er legt ihr seine Hände auf die Schultern und zieht sie sanft zu sich, er –
Es klingelt an der Tür. Einen kurzen Moment glaubt Martha, es sei wirklich Miller, der gekommen ist, um ihr seine Liebe zu gestehen. Sie läuft in den Flur, im Spiegel sieht sie ihr blasses Gesicht. Sie fährt sich durch die Haare und kneift sich in die Wangen, doch das ändert nichts. Sie sieht grauenvoll aus.
Die Gegensprechanlage ist immer noch kaputt. Martha drückt auf den Türöffner und öffnet die Tür einen kleinen Spalt. Wahrscheinlich ist es bloß der Briefträger oder irgendjemand, der ihr ein Zeitungsabonnement aufschwatzen will.
Es ist Jill.
«Was machst du denn hier?», fragt Martha.
«Das ist ja mal eine tolle Begrüßung», sagt Jill. «Hab doch gesagt, dass ich nach der Schule bei dir rumkomme. Englisch ist ausgefallen.»
«Warum?», fragt Martha und lässt Jill in die Wohnung.
«Keine Ahnung, Miller ist nicht erschienen. Vincent wollte erst im Sekretariat nachfragen, aber wir hatten keinen Bock auf eine Vertretung, also sind wir nach zehn Minuten gegangen. Er lässt dir übrigens gute Besserung ausrichten.»
«Wer?»
«Na, Vincent natürlich. Ich hab ihm gesagt, dass ich dich besuche.»
Martha ist verwirrt, wieso hat Miller den Unterricht ausfallen lassen? Sie kann sich nicht daran erinnern, dass er jemals gefehlt hätte.
«Ihr hättet ja ruhig noch etwas warten können.»
Jill tippt sich an die Stirn. «Hör mal, wenn wir nicht pünktlich sind, gibt’s gleich einen Eintrag. Man muss die Lehrer erziehen. Ein zweites Mal macht er das nicht mit uns.»
Jill lässt ihre Tasche fallen und sieht sich neugierig um.
«Ist doch gar nicht so schlecht hier. Die Farben finde ich geil.» Sie bleibt vor dem Aquarium stehen. «Wo sind denn die Fische?»
«Es gibt keine», sagt Martha.
«Warum nicht?»
«Weil es eben keine gibt.» Sie hat keine Lust, Jill zu erklären, dass die Fische nach Pams Unfall gestorben sind und Poppy sich seither weigert, neue anzuschaffen. Sie kann sich lebhaft Jills Kommentare vorstellen, und Johannes kann im Schlafzimmer schließlich alles hören.
Jill steuert das Wohnzimmer an. Sie zeigt an die Decke. «Da oben hat also die Alte den Löffel abgegeben?»
«Jill!»
Jill kichert. «Was soll ich stattdessen sagen? Wurde von einem Schrei erschlagen? Klingt auch nicht besser, wenn du mich fragst. Ihr könnt von Glück sagen, dass da kein Blut durch die Decke kam.» Sie schüttelt sich in gespieltem Ekel.
«Die Polizei hat das Blut bestimmt weggemacht», sagt Martha.
Jill starrt immer noch an die Decke, als hoffte sie, es fiele doch noch ein Blutstropfen herunter.
«Willst du was trinken?» Martha zieht Jill in die Küche.
«Wow! Ein Kronleuchter in der Küche, das hat auch nicht jeder.»
«Total unpraktisch», sagt Martha. «Meine Mutter wollte den mal sauber machen und musste dafür jedes einzelne Kristallteil in die Spülmaschine stecken.» Sie füllt ein Glas mit Orangensaft und reicht es Jill. «Wir gehen besser in mein Zimmer.»
«Ich hab aber tierischen Kohldampf», sagt Jill und sieht Martha prüfend an. «Du könntest auch was vertragen, siehst aus, als würdest du gleich umkippen.» Jill nimmt einen Apfel aus einem Korb, betrachtet ihn von allen
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