Am Ende der Treppe, hinter der Tür (German Edition)
gegangen, nicht zuletzt weil er so stank. Aber Jill hatte gemeint, dass man unbedingt etwas tun müsste. «Der arme Mann! Dem muss man doch helfen.» Sie hatte in der Klasse eine Sammlung veranstaltet. Martha erinnert sich noch genau, fast fünfzig Euro waren zusammengekommen, sogar ihre Klassenlehrerin hatte zehn Euro gegeben, aber nur weil Jill ständig auf sie eingeredet hatte. Ein paar Mädchen, angeführt von Jill, waren dann zu dem Bettler gegangen und hatten ihm feierlich das Geld überreicht. Er war dann wirklich verschwunden, aber nur für zwei Tage. Danach war er wiederaufgetaucht, hatte noch mehr nach Alkohol gerochen als sonst und einfach weiter gebettelt. Jill hatte ihm das nie verziehen.
Sie weiß eben immer, was für andere gut ist, auch wenn die das gar nicht wollen, denkt Martha. Und was ist mit ihr selbst? Sie weiß es nicht, sie weiß nur, dass sie jetzt nicht darüber nachdenken kann. Jetzt will sie nur noch eins – schlafen.
Mitten in der Nacht wacht Martha auf. Die Übelkeit ist weg, aber ihr Körper ist glühend heiß. Bestimmt hat sie Fieber. Ihr erster Impuls ist, ins Schlafzimmer zu ihrer Mutter zu laufen, sie will ihre kühle Hand auf ihrer Stirn spüren, tröstende Worte hören. Aber Constanze ist ja nicht allein. Die Glatze liegt neben ihr. Martha wird nie mehr nachts zu ihrer Mutter ins Bett kriechen können. Nicht dass sie das sehr oft gemacht hätte, aber bis vor kurzem hätte sie es jederzeit tun können. Das ist vorbei, endgültig vorbei. Jedenfalls solange sie hier wohnen, solange Johannes und Poppy ihr ihre Mutter wegnehmen.
Nicht nur dass sie ihren Vater verloren hat, sie hat auch keine Mutter mehr. Aber die wird sie sich zurückholen. Egal, wie!
Martha spürt einen bitteren Geschmack im Mund. Sie möchte aufstehen und sich ein Glas Wasser holen, aber in diesem Augenblick hört sie Schritte und dann das Rauschen der Klospülung. Johannes ist auf die Toilette gegangen. Bestimmt übergibt er sich gerade. Ist das alles widerlich!
17.
A m Morgen stellt sich Martha auf die Waage. Ein Gutes hatte dieser blöde Virus doch, sie hat ein Kilo abgenommen und außerdem immer noch keinen großen Hunger. Vielleicht nimmt sie bis morgen weiter ab, dann kann sie endlich die Jeans anziehen, die sie sich vor einem halben Jahr viel zu eng gekauft hat.
Ihre Mutter kommt aus dem Schlafzimmer, fix und fertig fürs Büro angezogen. «Ich bringe Poppy in den Kindergarten, sie ist fieberfrei. Johannes hat sich für heute krankgemeldet und bleibt zu Hause.»
«Dann geh ich zur Schule», sagt Martha sofort. Sie möchte auf keinen Fall mit der Glatze allein in der Wohnung bleiben!
«Wie du meinst», sagt ihre Mutter nur.
Aber als Martha sich die Zähne putzen will, wird ihr schwindlig, und sie muss sich am Waschbecken festhalten, um nicht umzukippen. Damit hat sich das Thema Schule wohl erledigt.
Sie brüht einen Beutel mit Pfefferminztee auf und geht zurück in ihr Zimmer. Instinktiv greift sie nach dem Laptop, um sich mit einer ihrer Lieblingsserien die Zeit zu vertreiben, doch ihre Hand zuckt zurück, als habe sie einen elektrischen Schlag erhalten. Vielleicht hat dieser Homer irgendwas geschrieben, und sie muss antworten. Ach nein, das wollte ja Jill machen. Trotzdem stellt sie den Computer nicht an – ihr ist, als würde dadrin irgendetwas Böses auf sie lauern. Wahrscheinlich sind das die Spätfolgen ihrer Krankheit.
Dann muss eben das gute alte Buch herhalten. Ein Liebesroman wäre jetzt genau richtig. Sie findet eine zerfledderte Schwarte, die ihr Hanna mal geliehen, die sie aber nie gelesen hatte:
Liebe nach Schulschluss
. Es geht um einen Lehrer, der eigentlich ein Vampir ist und sich in seine Schülerin verliebt. Passt ja. Dummerweise kann sich Martha mit der Hauptfigur überhaupt nicht identifizieren. Diese Laurie ist einfach nur blöd und blond.
Es klopft an die Tür. Martha reagiert nicht, das kann nur Johannes sein. Da schiebt er auch schon seinen Glatzkopf durch den Türspalt.
«Wie geht’s dir?», fragt er. Seine Augen sind rot unterlaufen, er sieht schlecht aus.
«Beschissen wär geprahlt», sagt Martha. Das war ein Spruch ihres Vaters.
Johannes lächelt gequält. «Dann können wir uns ja die Hände reichen. Aber tröste dich, spätestens morgen ist es vorbei.»
Leise schließt er die Tür.
Martha schaut auf die Uhr, in der Vierten haben sie Englisch. Ob Miller auffällt, dass sie nicht da ist? Natürlich fällt ihm das auf. Und wieder muss sie daran denken, wie er
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