Am Ende der Treppe, hinter der Tür (German Edition)
mit diesem fragend-wohlwollenden Blick, den er auch im Unterricht immer hat, wenn er eine bestimmte Vokabel oder eine Antwort auf eine gestellte Aufgabe wissen will.
«Bitte erzähl mir noch einmal ganz genau, was du gehört hast.»
Martha hat die Szene in ihrem Kopf so oft durchgespielt, dass sie gar nicht mehr weiß, ob es wirklich war oder ob sie alles nur geträumt hat.
«Ich wollte gerade wieder raus aus dem Schrank, da hat es geklingelt. Die Dernburg ist in den Flur gekommen und hat ‹Hallo?› in die Sprechanlage gerufen. Die war aber wieder mal kaputt. Dann hab ich Summen gehört, also muss sie auf den Türöffner gedrückt haben. Nach einer Weile hat sie die Tür aufgemacht und laut gerufen: ‹Was wollen Sie denn hier? Ich hab Ihnen doch gesagt, dass ich die Therapie abbreche!› Was der Mann geantwortet hat, konnte ich nicht verstehen.»
«Der Mann?», unterbricht sie Miller. «Woher weißt du, dass es ein Mann war?»
«Es war eine Männerstimme, ganz bestimmt.»
«Tief? Hell? Würdest du sie wiedererkennen?»
Martha runzelt die Stirn. «Tief würde ich nicht sagen, nein, und ich glaube nicht, dass ich sie wiedererkennen würde.»
«Es könnte also auch eine Frau gewesen sein?»
«Eine Frau mit einer dunklen Stimme, meinen Sie? Ja, vielleicht.»
«Und weiter?»
«‹Ich gebe Ihnen fünf Minuten, nicht länger›, hat die Dernburg gesagt, und dann ist sie mit ihm oder mit ihr nach hinten. Da konnte ich erst nicht verstehen, was gesprochen wurde. Aber dann wurde sie wieder laut und hat irgendwas von ärztlicher Schweigepflicht gesagt und dass die in so einem Fall nicht zählt.»
«Und dann?»
«Dann gab es einen Krach, ich glaube, die Tür knallte zu, und ich hab die Gelegenheit benutzt und bin abgehauen.»
Miller löst sich vom Tisch und tritt ans Fenster. «Was für ein schöner Tag, viel zu schön, um über so etwas Grässliches wie einen Mord zu reden.»
«Ich … es tut mir leid, aber ich wusste nicht, mit wem …»
Er dreht sich zu ihr um. «Und du hast mit keinem Menschen darüber gesprochen?»
Genau das war die Kleinigkeit, die sie in ihrem Bericht ausgelassen hat: Jill. Sie hat ihm nicht gesagt, dass Jill eingeweiht ist und dass sie es war, die auf die Idee mit der Online-Erpressung gekommen ist. Soll sie ihm das erzählen? Lieber nicht, nachher denkt er, dass sie überall mit dieser Geschichte hausieren geht.
«Nein», sagt sie und schüttelt zur Bekräftigung den Kopf.
«Und wie bist du auf die Idee gekommen, mit dem Mörder auf diese … nun, etwas ungewöhnliche Art Kontakt aufzunehmen?»
«Na, ich hab gedacht, wenn ich einen Mord begangen hätte, würde ich bestimmt alles lesen wollen, was in der Zeitung über mich steht. Auch die Kommentare, die die Leute abgeben …»
Sie macht eine vage Handbewegung.
Miller nickt. «Das war sehr klug. Raffiniert geradezu.»
«Aber was soll ich denn jetzt machen?», ruft Martha verzweifelt. «Ich trau mich nicht, mit … mit diesem Menschen zu telefonieren. Wenn er der Mörder ist, bringt er mich vielleicht auch um!»
Miller kommt zu ihr und setzt sich neben sie auf das Sofa. Einen kurzen Moment denkt Martha, dass er gleich ihre Hände nehmen wird, aber er schaut sie nur eindringlich an. «Wenn ich es richtig sehe, dann gibt es genau drei Möglichkeiten. Die erste: Du gehst zur Polizei und erzählst die Geschichte. Dann wird man dir sicher einige sehr unangenehme Fragen stellen, vor allem die, warum du geschwiegen und stattdessen versucht hast, mit dem Täter Kontakt aufzunehmen. Die zweite Möglichkeit: Du reagierst einfach nicht mehr. Und die dritte: Du ziehst das Ding bis zum Ende durch. Aber denk dran: Egal, wofür du dich entscheidest, diese Frau … wie hieß sie noch? Dernburg? Diese Frau Dernburg wird davon nicht wieder lebendig.»
«Mit der dritten Möglichkeit meinen Sie, dass ich den Mörder erpresse?»
«Erpressung klingt nicht gut. Gar nicht gut. Sieh es mal so: Du verkaufst etwas. Du verkaufst dein Schweigen. Das ist ein Geschäft, mehr nicht.»
Martha muss ein ziemlich dummes Gesicht machen, denn Miller lacht. «Das hast du nicht erwartet, oder? Du hast bestimmt geglaubt, ich würde dir raten, zur Polizei zu gehen. Müsste ich in meiner Funktion als Lehrer natürlich auch.»
«Sie sind aber nicht wie andere Lehrer, ich meine …» Martha spürt, dass sie gleich anfängt zu weinen.
«Sonst wäre ich ja nicht zu Ihnen gekommen», schafft sie noch zu sagen, bevor die Tränen unkontrolliert zu fließen
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