Am Ende der Wildnis
Wasser aushalten konnte, der sich streng disziplinierte und die beste Kondition besaß, hätte vielleicht weitaus länger durchgehalten, aber dadurch wäre nur sein Leiden hinausgezögert worden, wenn er nicht schon nahe am Ufer gewesen war. Sollte er aber tatsächlich eine Rolle geschafft haben, hätte das Zusammenspiel von Dünung, Nebel und/oder Dunkelheit ihm wahrscheinlich jede Orientierung geraubt, und selbst wenn er Land in Sicht gehabt haben sollte, hätten ihn Gegenwinde, Wellen oder Strömung ohne Weiteres fortreißen können.
Für den Fall, dass Hadwin es tatsächlich an Land ge schafft hätte, wäre immer noch eine Wärmequelle vonnöten gewesen, um die endgültige Unterkühlung abzuwenden. Wenn man sich an die Bestandsaufnahme (trockene Streich hölzer und Kaffee) nach seinem Aufenthalt auf Kruzof Island erinnert, mag er ebendas durchaus zur Verfügung gehabt haben. Mochte er sich noch so risikofreudig verhalten haben und offenkundig äußerst kälteunempfindlich gewesen sein, hatte Hadwin schließlich dreißig Jahre Erfahrung als Einzelgänger in der Wildnis hinter sich und ist sich ganz bestimmt der Unterkühlungsgefahr mehr als bewusst gewesen. Hätte er es geschafft, die Körpertemperatur zu stabilisieren, wäre er auf der sicheren Seite gewesen. Vielleicht für immer. Sein alter Hausgenosse und Kollege Paul Bernier war nicht nur von Hadwins physischem Durchhaltevermögen in der Wildnis beeindruckt. »Ich kenne ihn ziemlich gut«, sagte er, »und ich weiß, dass er fast nichts brauchte, um zu überleben. Er wusste genau, welche Pflanzen es wo gab, und er hat mir diverse Pflanzen gezeigt, die wir essen konnten.«
Cory Delves, einer von Hadwins früheren Vorarbeitern bei Evans Wood Products, stimmte zu. »Letztlich«, sagte er, »haben wir es mit einem Menschen zu tun, den man mit sehr wenigen Mitteln ausgerüstet an jedem beliebigen Ort der Erde aussetzen könnte, und er würde schon bald wieder auftauchen, wie aus dem Ei gepellt und als sei nichts gewesen.«
Die Nordküste ist nicht nur der ideale Ort, um Leichen zu entsorgen, wie Sergeant McPherron bemerkte, sie kann auch lebende Menschen verschlucken, und etliche Leute sind der Ansicht, dass sie auch Hadwin verschluckt hat. Das könnte es sein, was ihm letztlich vorschwebte: das totale Eintauchen in die Umwelt, in der er sich am meisten heimisch fühlte und wo er wie nirgends sonst das Gefühl hatte, er selbst zu sein. Darin stand er mit vielen Haida im Einklang, die unter anderen Umständen seine Verbündeten hätten sein können und seine Beschützer. »Da gibt es keine Planung«, sagte Guujaaw, der gegenwärtige Präsident der Haida Nation, zu einem Kajakfahrer, als sie sich über die Praktiken des hier üblichen Holzeinschlags unterhielten. »Ein Bestand nach dem anderen: Sie beschaffen sich eine Erlaubnis, und dann vernichten sie ihn. Das ist doch keine Massenware; es ist überhaupt keine Ware. Lass einfach deinen Kajak da, zieh dir die Schuhe aus und geh da hinein.«
Genau das mag Hadwin getan haben. Irgendwo hinter Port Simpson könnte er an der urwüchsigen, menschenleeren Küste gelandet sein, seinem Boot einen Stoß ins Wasser versetzt haben und in den Wald gegangen sein.
Nach Ansicht von Sergeant McPherron und seinem kanadischen Pendant Corporal Gary Stroeder wird diese Theorie vom Zustand der Wrackteile gestützt, der sich anscheinend nicht mit der Zeitdifferenz in Einklang bringen ließ und auch nicht mit der zerklüfteten Umgebung, in der sie aufgefunden wurden. Das kompliziert die Angelegenheit erheblich, ebenso wie zwei andere Einzelheiten: erstens, dass Hadwins Kajak wegen der typischen Strömungen zur Winterzeit bereits innerhalb einiger Tage hätte an Land gespült werden müssen, und zweitens, dass Hadwin am Tag seiner ersten Abreise für dreihundert Dollar Lebensmittel eingekauft hatte – eine enorme Menge Proviant für einen Ausflug, der doch nur fünf Tage dauern sollte. Aber da gab es noch etwas, das Corporal Stroeder Kopfzerbrechen machte: der Fundort von Hadwins Axt. Wie, fragte er sich, konnte ein so schwerer Gegenstand über die Flutlinie hinausgelangen?
Auch Sergeant McPherron wunderte sich darüber und ließ sich zu der Spekulation verleiten, dass Hadwin möglicherweise den Kajak eigenhändig zerstört hatte, um den Eindruck zu erwecken, es sei ein Unglück geschehen. Wenngleich die hohe Lebensmittelrechnung und der re lativ geringe Abrieb am Bootsrumpf diese Theorie untermauern, fragt man sich, warum Hadwin so
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