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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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Umständen auch immer zu verlieren, ist verheerend genug, aber mit der Ungewissheit leben zu müssen, ob er wirklich tot ist oder vielleicht eines Tages doch noch lebend zurückkehrt, ist besonders grausam und qualvoll. Margaret andererseits hat seit geraumer Weile versucht, ihren Mann für tot erklären zu lassen. Constable Walkinshaw glaubt, dass Hadwin am Leben sein könnte. »Der Polizist in mir sagt, diese Sache ist viel zu sauber gelaufen.« Die meisten Haida empfinden ähnlich, genauso wie eine verblüffende Anzahl von Menschen, die Hadwin über die Jahre persönlich gekannt haben: »Er könnte überall sein«, mutmaßt Corey Delves, »von Fraser Valley bis Pruhoe Bay.«
    »Wir alle glauben, dass er lebt«, sagte Al Wanderer. »Jeder, der mit ihm zu tun hatte, denkt das. Er ist ein Überlebenskünstler.«
    Das war nicht einfach so dahergesagt. Einer von Hadwins früheren Chefs wollte nicht einmal Jahre später über ihn sprechen, weil er fürchtete, dass Hadwin – wo immer er sein mochte – davon erfuhr und sich rächen würde, falls er kritische Töne anschlüge. Constable Jeffrey glaubt fest daran, dass Hadwin ertrunken ist, aber Corporal Stroeder ist sich nicht sicher. »Wenn ein Coroner mich bitten würde, seinen Tod zu bestätigen, könnte ich das nicht tun«, sagte er. »Es gibt einfach zu viele offene Fragen.«
    Eine davon reicht bis nach Kalifornien. Irgendwann während des Thanksgiving-Wochenendes im Jahr 2000 setzte jemand einen nahezu fatalen Kettensägenschnitt in Luna, den gewaltigen Redwood in Humboldt County, dem die Umweltaktivistin Julia Butterfield Hill zu Ruhm verhalf, die zwei Jahre lang zwischen seinen Ästen lebte. Wie bei der goldenen Fichte ließ der Schnitt den Baum nicht umstürzen, machte ihn aber extrem empfindlich für sehr starke Winde (er ist seither mit schweren Stahlschellen verstärkt worden und noch am Leben). Derjenige, der den Kettensägenangriff verantwortet, ist nie gefasst worden. Sosehr die Verfahrensweise auch der Hadwins zu gleichen scheint, war der Angriff auf Luna ziemlich sicher das Werk eines lokalen Holzfällers, der voller Zorn reagierte, nicht weil die Maxxam Corporation das Stück Forst zu Geld machen wollte, um andere Schulden zu tilgen, sondern weil er wütend darüber war, dass die Umweltschützer zu beschneiden wagten, was die Holzfäller der West Coast als ihr von Gott gegebenes Recht ansehen. »Achthundert Jahre, um zu wachsen, und fünfundzwanzig Minuten, um ihn zu fällen«, wie ein altgedienter Holzfäller aus British Columbia es formulierte. »Es ist traurig, aber man lebt davon.«
    Während des letzten Jahres vor seinem Verschwinden sprach Hadwin gelegentlich von sich als Kojote; manchmal unterschrieb er sogar seine Briefe mit dem Wort. Letztendlich mag er über ein größeres Maß an Selbsterkenntnis verfügt haben, als die meisten Menschen ihm zugestehen. Ganz bestimmt hat er diese Tiere gut gekannt, und er war auch nicht der Erste, dem die Ähnlichkeit auffiel. Hadwin besaß dieselbe Schnelligkeit, dieselbe Unermüdlichkeit, dieselbe nicht totzukriegende Standhaftigkeit, die den Kojoten anscheinend zu eigen sind. Anders als Wölfe schleichen Kojoten abwartend an der Grenze zur Zivilisation und starten, wenn es nötig wird, blitzartig Raubzüge in bewohnte Gebiete, um danach wie Spukgestalten wieder im Busch zu verschwinden. Wenn man Hadwins Leben in einem Satz zusammenfassen müsste, würde er wohl sehr ähnlich klingen. Hadwins Fall ist weder bei den State Troopers von Alaska abgeschlossen noch bei den Mounties, aber niemand hat sich die Mühe gemacht, in Sibirien nach ihm zu suchen. Cora Gray erinnerte sich, dass Hadwin »viel von Russland sprach. Er sagte zum Beispiel: ›Müsste ich mich für eine Bleibe entscheiden, dann wäre es Russland. Sei nicht überrascht, wenn ich mich von dort bei dir melde.‹ Wenn das Telefon jetzt spät nachts läutet, nehme ich nicht ab.«

KAPITEL VIERZEHN
    Am Horizont
    Eine Kultur ist nur so gut wie ihre Wälder.
    W. H. Auden, Bucolics II: Woods
    A l Wanderer, Hadwins ehemaliger Kollege bei Lillooet, könnte für alle Waldarbeiter der Geschichte gesprochen haben, als er über sein kahles Stück British Columbias schaute und sagte: »Verdammt, dass man so viel abholzen kann, hatte ich nicht gedacht.« Jeder, der in den Wäldern des Pacific Northwest gewesen ist, wüsste genau, was er meinte. Selbst jetzt noch vermitteln diese Wälder ein Gefühl der Unendlichkeit – bis man die Kahlschläge sieht und einem

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