Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
diesem Morgen, zum erstenmal wirklich realisiert, daß mit Patricia nie zu reden sein würde, daß er sich keinerlei Hoffnung auf eine gütliche Einigung mit ihr machen konnte. Wollte er sein Ziel erreichen, mußte er komplizierte und möglicherweise langwierige juristische Wege einschlagen. Sie konnte sich vorstellen, daß er um die Frage kreiste, wovon er dies bezahlen sollte. Gleichzeitig hatte er sich zu tief in seine Träume verstrickt, um noch davon Abstand nehmen zu können, was nach Jessicas Ansicht die vernünftigste Entscheidung in seiner Situation gewesen wäre. Wie reagierte ein Mann in einer so schwierigen, fast ausweglosen Lage?
Sie hatte ein ungutes Gefühl.
Ich wünschte, dieser Urlaub wäre vorbei, und wir wären wieder alle zu Hause, dachte sie, während ihr gleichzeitig einfiel, daß das Ende der Ferien noch keineswegs ihre Probleme mit Alexander lösen würde.
Der anfangs kühle Tag wurde mit jeder Stunde wärmer und sonniger; das schöne Wetter der Vorwoche schien sich nach einer kurzen Störung wieder zu etablieren. Fast keine Wolke war inzwischen mehr am Himmel zu sehen, der Wind hatte seine Frische verloren, wurde zu einem milden Fächeln. Jessica zog ihren Pullover über den Kopf, behielt nur ihr T-Shirt an. Der Stoff klebte an ihrem Rücken, und sie merkte auch, daß ein feiner Schweißfilm auf ihrem Gesicht lag.
Sie lief wieder heim und gelangte völlig erschöpft in Stanbury House an. Eine trügerische Ruhe lag über dem Anwesen, eine unechte Idylle: Bis auf Tim und Alexander, die noch immer in ihr Schachspiel vertieft waren, hielten sich alle lesend oder spielend im Garten auf, aber sie wirkten nicht wie fröhliche Menschen, die zusammen einen sonnigen Urlaub verbringen. Es war eher so, als befehlige ein unsichtbarer Regisseur die Szene, dessen Anweisung gelautet hatte: Seid leicht, seid unverkrampft, genießt einen schönen Tag! Jeder - bis auf Ricarda - mühte sich, dieser Vorgabe zu entsprechen. Niemandem gelang es dabei, überzeugend aufzutreten. Am wenigsten Evelin. Sie spielte den Schiedsrichter bei Dianes und Sophies Federballturnier, humpelte hin und her, unförmig und unbeweglich, und es schmerzte fast zuzusehen, wie sehr sie sich anstrengen mußte, um zu lachen und die fröhlich-hektischen Ansagen eines Sportkommentators abzuliefern.
Jessica gab Barney in der Küche zu essen und zu trinken und ging dann ins Eßzimmer, um sich ein wenig unter den vielen Büchern, die dort zwei Wände bedeckten, umzusehen. Wenn es Archivmaterial über Kevin McGowan gab, so dachte sie sich, hatte dieser vielleicht auch etwas davon in seiner privaten Bibliothek stehen.
Tatsächlich wurde sie nach einigem Suchen fündig. Es gab einige gebundene Sammelbände, die Artikel von ihm enthielten, hauptsächlich solche, die sich mit der Nordirland-Problematik beschäftigten. In einem Ordner befanden sich Artikel, die über ihn geschrieben worden waren, Interviews und Porträts. Es waren auch Fotos dabei, die Jessica sofort eingehend studierte. Wenn Phillip sein Sohn war, müßte es eine Ähnlichkeit geben. Sie fand durchaus, daß Kevin McGowans Züge Übereinstimmungen mit denen Phillips aufwiesen; allerdings war sie nicht sicher, ob sie dies auch gesehen hätte, wenn sie nicht ganz gezielt danach gesucht hätte. Man konnte sich vieles einbilden.
Und schließlich hielt sie ein Taschenbuch in den Händen, dessen Autor Kevin McGowan selbst war. Es verging viel zu schnell … lautete der erstaunlich poetische Titel, und gemeint war: Mein Leben , was als Untertitel darunterstand. Das war interessant. Aus diesem Buch hätte Phillip eine Menge Informationen ziehen können.
Sie machte sich rasch einen Tee und setzte sich dann an den Eßtisch, breitete um sich herum aus, was sie gefunden hatte. Als erstes nahm sie sich McGowans Autobiographie vor. Sie war eine geübte Schnelleserin, und so glitten ihre Augen rasch durch die Seiten und nahmen dabei die wesentlichen Informationen auf.
Kevin McGowan schrieb in der Hauptsache über sein berufliches Leben, seinen Aufstieg bei der BBC, über wichtige Reportagen und Reisen, über die Interviews, die er mit bedeutenden Persönlichkeiten geführt hatte. Jessica war überrascht; offenbar hatten sich Kevin McGowan nahezu überall auf der Welt die Türen und Tore der Mächtigen und Einflußreichen ohne größere Schwierigkeiten geöffnet. Er hatte Gespräche mit dem Schah von Persien geführt sowie mit mehreren amerikanischen Präsidenten, mit dem Führer der
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