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Am Ende des Tages

Am Ende des Tages

Titel: Am Ende des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Hültner
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gedacht werden sollte. Er warf einen Blick in den überfüllten Saal, aß in der Gaststube zu Abend, ging wieder in sein Zimmer und versuchte zu schlafen.
    Immer wieder brandete johlender Beifall auf. Nachdem er sich eine Weile im Bett herumgewälzt hatte, stand Kajetan auf, schlüpfte in seine Kleider und verließ sein Zimmer.
    Die Nacht war klar und kalt. Er trottete die kleinen Straßen der Maxvorstadt entlang, überquerte den Königsplatz. Im Licht der Straßenlaternen wirkten die antikischen Tempel wie die Kulissen eines Monumentalfilms. Er bog in die Brienner Straße ein, passierte die Residenz. Auf der Maximilianstraße herrschte noch dichter Verkehr. Er flanierte an den Läden und den hell erleuchteten Theaterfoyers vorbei und fand sich nach einiger Zeit am Isartor wieder. In der Westenriederstraße waren Nachtschwärmer unterwegs, im Schutz eines Torbogens und im dämmerigen Dunkel zwischen den Straßenlaternen lungerten einige Frauen herum. Er verlangsamte seinen Schritt.
    Der lange Fußmarsch hatte ihn müde gemacht. Er beschloss, den Heimweg anzutreten. Er war bereits einige Schritte in die Richtung gegangen, aus der er gekommen war, als er einige Takte Klaviermusik vernahm. Sofort wurden sie wieder vom Lärm heranrollender Autos verschluckt. Er blieb stehen.
    Der Neuner-Fritz!, dachte er gerührt.
    Er drehte sich um. Die Lampen über dem Portal des Kinos am Isartor waren bereits ausgeschaltet. Der Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Automobils bestrich das meterhohe Reklamegemälde. Es wurde »Des Oberförsters Töchterlein« gegeben.
    Er trat näher. Die Tür des Foyers stand einen Spalt offen. Die anschwellende Musik zeigte, dass die Vorstellung ihrem Ende zuging.
    Kajetan lauschte andächtig. Er war alles andere als ein Fachmann für klassische Musik. Wenn er sie, selten genug, bei den Übertragungen der »Deutschen Stunde in Bayern« empfangen konnte, hatte ihn mehr das technische Wunder einer Funkübertragung fasziniert als das, was ihm geboten wurde. Doch diese Melodien kannte fast die halbe Stadt. Der Kinopianist, von allen nur der Neuner-Fritz genannt, war Mitglied des Orchesters des Nationaltheaters gewesen, bis er sich einmal herausnahm, dem Orchesterleiter vor aller Ohren über den Mund zu fahren, als dieser wieder einmal von der Gefahr des – wie er es nannte – Musikbolschewismus schwadronierte. Stunden später hielt er seine Entlassungspapiere in der Hand. Er schlug sich eine Weile als mies bezahlter Kneipenmusiker durch und landete schließlich als Pianist am Isartor-Kino. Mit den Jahren war er jedoch zum Säufer geworden. Aber auch zur Legende. Denn egal, was über die Leinwand flimmerte, ob Heimatschnulze, Isarwestern, Kriminalfilm oder Liebesdrama, die neuesten Werke von Lang, Murnau oder Papst – alles untermalte er zuletzt mit Motiven aus einem einzigen Werk: Schuberts Neunter.
    Eine schmale Wehmut ergriff Kajetan. War er nach der Vorstellung meist nicht noch ins nahe Thal gegangen und beim »Soller«-Wirt eingekehrt? Dort waren das Bier billiger als in anderen Gasthäusern, herrschten Leben und Trubel, und während sich in den vordereren Gasträumen klobige Lohnkutscher mit halbseidenen Giesinger Luckis in die Haare gerieten, palaverten im Hinterzimmer anarchistische Klubs über die Weltrevolution.
    Kurze Zeit später schob er die Tür zum »Soller« auf. Ohrenbetäubender Lärm und ein sumpfiger Geruch von Bier, schlechtem Tabak und Schweiß schlugen ihm entgegen. Dichter Rauch dämpfte das spärliche Licht der Deckenlampen. Kajetan kniff die Augen zusammen. Fast alle Tische waren besetzt. Vergeblich suchte er nach einem bekannten Gesicht. Er wandte sich wieder zum Eingang. Den Türknauf hatte er bereits in der Hand, als er eine Stimme hinter seinem Rücken vernahm. Hatte jemand seinen Namen gerufen? Er drehte sich um.
    Die Kellnerin Burgi stand an der Anrichte, ihre Linke haltsuchend aufgestützt. In ihrer anderen Hand schwappte ein Bierkrug. Ihre Lippen bewegten sich, als versuchten sie, Worte zu formen.
    Kajetan trat erfreut auf sie zu.
    Sie starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Dann gewann sie ihre Fassung zurück. »Jetzt … jetzt wär mir fast das Herz stehen blieben. Paule! Du … du lebst?«
    Was hatte sie? Daraus, dass er einer jener Gäste gewesen war, die sie gerne bediente, hatte sie zwar nie einen Hehl gemacht. Aber da war er doch nicht der Einzige gewesen?
    Er grinste schief. »Siehst doch.«
    Sie deutete ihm zu warten, brachte das Bier an einen der Tische

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