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Am Ende eines Sommers - Roman

Am Ende eines Sommers - Roman

Titel: Am Ende eines Sommers - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Ashdown
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er?« Sie schaut sich mit großen Augen in der Klasse um. Sie hat grüne Augen, genau wie ich. Ich kann sie von hier aus sehen. Ich kann die Pupillen ihrer Augen von hier aus sehen.
    »Erfinder«, rufen ein paar gedämpfte Stimmen.
    »Richtig! Dädalus war Erfinder. Der Turm war verdreckt mit den Kadavern und Federn toter Vögel, die darin genistet hatten. Dädalus baute zwei Paar riesige Flügel. Dazu benutzte er die Federn und Knochen dieser toten Vögel und klebte sie mit Kerzenwachs zusammen. Ikarus und Dädalus schnallten sich diese Flügel an die Schultern und sprangen aus dem Fenster des Turms.« Miss Terry schwebt mit ausgebreiteten Armen zwischen unseren Pulten hin und her wie ein Vogel, der über den Himmel gleitet. »›Bleib weg von der Sonne!‹, rief Dädalus. ›In der Hitze der Sonne schmilzt das Wachs, und dann stürzt du ab!‹ Aber Ikarus hatte einen Heidenspaß und hörte nicht auf seinen alten Dad. Er machte, was er wollte, und flog am Himmel herum. Und dann? Er kam der Sonne zu nah. Das Wachs seiner Flügel wurde flüssig, und als Dädalus wohlbehalten auf einer nahen Insel landete, sah er seinen Sohn Ikarus vom Himmel in das Ägäische Meer stürzen. Nur ein paar Federn schwebten und kreiselten im Sonnenlicht.«
    An meinem Schreibtisch bleibt sie wieder stehen, und jetzt hängen ihre Flügel schlaff herunter. Sie hat den Kopf gesenkt, um zu zeigen, dass ihre Geschichte zu Ende ist. Ein paar freche Jungs in den hinteren Reihen klatschen und rufen: »Bravo!« Jetzt lächelt Miss Terry und macht eine kleine Verbeugung vor der Klasse. Ihr Gesicht ist rosig und leuchtet.
    »Und die Moral dieser Geschichte?«, fragt sie und sieht uns erwartungsvoll an.
    »Man soll auf seinen Dad hören?«, ruft jemand hinter mir.
    »Ja, das auch. Aber eigentlich geht es darum, die Weisheit der Älteren zu respektieren. Hätte Ikarus den Rat seines Vaters akzeptiert und seine eigenen Grenzen erkannt, dann wäre er vielleicht auch heil auf der Insel gelandet. Okay, das war’s für heute. Vielen Dank euch allen.«
    Die Klasse poltert hinaus, als draußen die Glocke klingelt.
    »Ich hab dich beim Elternabend nicht gesehen, Jake«, ruft Miss Terry mir nach, als ich den andern hinausfolgen will.
    »Nein, Miss. Grippe. Mum hatte die Grippe. Richtig schlimm sogar. Beinahe hätten wir den Arzt holen müssen, aber dann ging es ihr plötzlich wieder besser, und da war’s dann nicht mehr nötig. Deswegen – yep, das war’s. Irgendwann dachten wir sogar, es ist eine Lungenentzündung, aber es war keine.«
    »Okay, Jake.« Sie putzt die Tafel, und der Saum ihrer Bluse bewegt sich auf und ab, wenn sie sich streckt und wischt. Jedes Mal, wenn sie den Arm hebt, sehe ich einen Streifen sahnig weiße Haut. »Sag deinen Eltern, ich freue mich darauf, sie beim nächsten Mal zu sehen.«
    Ich warte darauf, dass sie sich umdreht und mich ansieht, aber das tut sie nicht.
    Als ich aus dem Klassenzimmer komme, ist der Flur leer. Heute haben wir nur noch Mathe, aber mein Kopf ist voll von Pfeilen und Schiffen und Miss Terry. Ich schleiche zur Hintertür hinaus, über den Schulhof und durch die Lücke in der Hecke. Ich lasse meine Schultasche fallen und lege mich in das kalte Gras, nah genug bei der Schule, um den Trubel bei Unterrichtsschluss mitzubekommen. Ich höre das Rumpeln der Schubkarre des Hausmeisters. Das Kreischen und Schreien der Erstklässler beim Korbball. Die Autos der Lehrer, die für heute fertig sind. Niemand wird merken, dass ich nicht da bin.
    Meine Zeitungsrunde mache ich jetzt seit zwei Wochen. Sechs Tage die Woche, sonntags frei. Jede Woche verstecke ich meine Ersparnisse in meinem geheimen Literatur-Versteck-Buch. Das ist eine Spardose, die aussieht wie ein normales Buch, und man stellt sie ins Bücherregal zwischen alle anderen Bücher, so können Diebe sie nicht finden. Matthew hat sie mir zu meinem letzten Geburtstag geschenkt; er hat sie auf dem Markt gefunden, sagt er. Ich spare für einen neuen Dynamo für mein Fahrrad, und ich will eine von diesen Fahrradhupen haben, die ein elektronisches Geräusch machen. Das heißt, wenn ich die Sachen nicht zu Weihnachten kriege. Jeden Samstag am Ende meiner Runde bringe ich meine Zeitungstasche zu Mr Horrock in den Laden, und er gibt mir einen kleinen braunen Umschlag und einen Schokoriegel, den er selbst aussucht. Er lächelt halb und zwinkert und gibt ihn mir verstohlen, als wäre es eine Botschaft vom FBI oder so was. In der ersten Woche war es ein Texan Bar, in der

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