Am Ende ist da nur Freude
hatte Schuldgefühle deswegen, denn ich stellte mir vor, dass sie bestimmt nicht allein sein wollte. Hatte sie nicht deshalb am Ende ihres Lebens verzweifelt versucht, mit ihrem Mann Kontakt aufzunehmen?
Mit der Zeit wurde mir klar, dass Mam auf dieselbe Weise versucht hatte, mit Dad Kontakt aufzunehmen, wie er verzweifelt versucht hatte, zu ihr ins Bett zu klettern und sich wieder mit ihr zu verbinden. Das hatten sie beide gewollt: zusammen zu sein und einander mit Leib und Seele nie zu verlassen. Es hatte wirklich nichts mit mir zu tun.
Mein Vater starb auf den Tag genau eine Woche später. Bei ihrer Beerdigung ließ er nicht das leiseste Anzeichen erkennen, dass sie nicht mehr da war. Es war, als wüsste er, dass sie auf ihn wartete – und ich glaube, das hat sie auch tatsächlich getan.
Ich habe etwas übersehen
von Joanne
Ich bin Sozialarbeiterin in einem ambulanten Hospizdienst. Als ich noch Trauerbegleiterin war, erhielt ich einmal einen Anruf von einer Frau namens Bonnie. Sie sagte, sie fürchte, sie habe etwas falsch gemacht. Ihre Mutter Elisa wurde seit etwa sechs bis acht Monaten von uns betreut. Da ihre Gesundheit zusehends verfiel, konnte sie kaum noch sprechen und redete daher sehr wenig mit ihrer Tochter.
Jetzt, da der Tod näher rückte, fing Elisa jedoch an, von ihrem Mann zu sprechen, der bereits vor 20 Jahren verstorben war. Sie sagte: »Er kommt und besucht mich.« Sie zeigte nach oben über das Bett und rief: »Arthur!«
Aufgewühlt, weil sie mitbekam, wie ihre Mutter mit ihrem toten Vater sprach, sagte Bonnie ihr: »Mam, du weißt doch, dass Dad seit Jahren tot ist.« Sie fand es wichtig, dass Elisa die Tatsache akzeptierte, dass ihr Mann nicht mehr da war. Im Grunde wollte ihre Tochter sie dazu bringen, »mit dem Gefasel aufzuhören«.
»Das kommt sehr oft vor«, erklärte ich Bonnie. »Sterbende rufen oft jemanden beim Namen, der bereits verstorben ist.«
»Genau«. Bonnie wirkte verärgert. »Es ist ja auch ganz normal, dass man Verstorbene sieht.«
Ich machte einen Rückzieher, denn ich wollte nicht mit einer Frau streiten, die gerade ihre Mutter verlor. Ein paar Monate später, nach Elisas Tod, rief Bonnie mich aus heiterem Himmel wieder an. »Ich habe etwas übersehen«, sagte sie. »Meine Mutter hat versucht, mir zu sagen, was vor sich ging, und ich konnte es einfach nicht begreifen.«
Ich erklärte ihr vorsichtig (als hätte ich es noch nie gesagt), dass das nicht ungewöhnlich war. »Manchmal sind wir so sehr damit beschäftigt, für unsere Lieben zu sorgen – wir achten darauf, dass es ihnen möglichst gut geht und sie alles haben, was sie brauchen –, dass wir dabei das eine oder andere gar nicht mitbekommen. Ihrer Mutter ging es nicht schlecht; sie hat am Ende sogar wieder mehr gesprochen, was sie ja davor nicht getan hat.«
Bonnie war immer noch aufgewühlt und fing an zu weinen. »Ich habe solche Schuldgefühle; wir hätten darüber reden sollen«, gestand sie. »Ich habe einfach geglaubt, Mam sei desorientiert, und ich dachte, es sei wirklich das Beste, wenn ich ihr sage, was real ist und was nicht. Ich hätte nie für möglich gehalten, dass das, was sie sah, tatsächlich real sein könnte.«
Ich konnte mit Bonnie mitfühlen. Das war nicht das erste Mal, dass ich Familienangehörige betreute, die glaubten, ein Zeichen übersehen zu haben und nun tiefe Reue verspürten. Als Sozialarbeiterin denke ich, dass wir mehr tun sollten, um unsere Patienten und ihre Angehörigen
vorzubereiten. Wir müssen offen über Visionen auf dem Sterbebett sprechen. Wir beraten die Leute ja schon auf so vielen Gebieten, etwa wie man mit Atemnot umgeht oder Schmerzen mit Medikamenten in den Griff bekommt. Wir sprechen darüber, was es emotional mit einem macht, jemanden loslassen zu müssen. Wir sagen etwa, »es ist okay loszulassen und sich zu verabschieden, wenn das Leben Ihres geliebten Menschen zu Ende ist«. Über solche Dinge reden wir, doch wir sagen unseren Sterbenden kaum einmal: »Es kann sein, dass ein verstorbener Verwandter oder Freund zu Ihnen kommt.« Wir sagen unseren Patienten nie, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem Bewusstsein des herannahenden Todes und einer Nahtoderfahrung. Wir behandeln diese Vorfälle nicht als etwas Normales, sodass die Leute darauf vorbereitet sind.
Elisa wandte ihre Aufmerksamkeit nicht mehr von ihrem verstorbenen Mann ab. Ich kann mich nur immer wieder fragen, was ich noch hätte tun können, um ihre Familie auf die Trauer
Weitere Kostenlose Bücher