Am Ende schmeißen wir mit Gold: Roman (German Edition)
peinlich.
»Ich bin zum Lernen öfter auf einen Kirchplatz in Heslach gegangen, weil es anonym war und fast nie Leute in meinem Alter vorbeigekommen sind. Dort bin ich deiner Mutter zum ersten Mal begegnet. Sie hat Kastanien gesammelt und gesagt, dass ich ganz schön mutig sei, zur Fallzeit ohne Helm unter dem Baum zu sitzen.«
Ein Herbsttag am Werdersee. Maria und ich sahen eine Ente, die eine Kastanie aufschnabelte. Sie bekam das Ding nicht durch den Hals und versuchte es wieder nach draußen zu würgen. Anfangs lachten wir über die beknackten Schüttelbewegungen des Vogels, doch nach ein paar Minuten drängte ich darauf weiterzugehen. Der Tag war sonnig und warm und ich wollte ihn mir nicht von einer erstickenden Ente verderben lassen. Und zum Spucken waren wir schon zu alt.
Hinter uns tuckert der Traktor vorbei und Hannah spricht weiter: »Wir sind ins Reden gekommen und haben uns noch für denselben Abend auf ihrem Zimmer im Studentenwohnheim verabredet. Deine Mutter war eine Person, bei der ich mich sofort wohlgefühlt habe und einfach drauflosplappern konnte.«
Auch mich scheint Hannah zu mögen, denn auch mir erzählt sie ohne Zögern.
»Von da an haben wir fast jeden Tag zusammen verbracht. Es war unkompliziert, bis wir auf der Silvesterfeier eines Bekannten deinen Vater kennengelernt haben.«
Sie sagt das so, als wäre mein Vater ein Actionheld gewesen und nicht der konservative, fleißige Mann, der ein Faible für khakifarbene Kleidung hatte und seine freien Tage gerne dösend oder Kriminalromane lesend im Liegestuhl verbrachte.
»Er hat sich mit einer Flasche Absinth zu uns auf den Boden gesetzt und von Oscar Niemeyer geschwärmt, war schon ziemlich betrunken und euphorisch. Claudia hat ihn irgendwann ausgebremst, sich die Hände auf die Ohren gelegt und gesagt, dass sie tanzen und nicht quatschen wolle. Und das haben wir dann auch getan und sind an Neujahr zu dritt nebeneinander aufgewacht.«
»Moment, du meinst, ihr habt …?«
Sie nickt und schüttelt den Kopf und lacht und hört auf zu lachen.
Ich erröte. Posthum machen meine Eltern mich zum verklemmten Waisenkind.
Und obwohl mich ihre nackten, arbeitenden Körper überfordern, diese in meiner Vorstellung viel runzliger sind, als sie damals gewesen sein können, hake ich nach.
»Und dann?«
»Dann haben wir uns ein bisschen geschämt und überlegt, was wir tun könnten. Spätabends beschlossen wir, die Sache weiterlaufen zu lassen.« Hannah schildert die Beziehung zwischen ihnen als harmonisch und nicht außergewöhnlich. Am Ende erzählt sie einfach vom Ende.
»Ich wollte mehr von deinem Vater und dein Vater wollte mehr von deiner Mutter. Wir haben einen Schlussstrich gezogen und ich organisierte mir eine Auszeit in Athen. Viel Zeit zum Grübeln oder Traurigsein hatte ich nicht. Schon in der zweiten Woche bin ich Silas begegnet. Er war gerade dabei, die baufällige Taverne seiner Eltern zu renovieren. Zwei Monate später bin ich mit ihm nach Kreta gezogen.«
Ein Düsenjäger fegt über uns hinweg und durchbricht die Schallmauer. Der Lärm verflüchtigt sich.
»In Königsburg war ich das letzte Mal zu deiner ersten Geburtstagsparty. Danach ist der Kontakt abgerissen. Vor einigen Monaten hat deine Mutter mich völlig überraschend angerufen. Wir haben lange telefoniert, und ich habe sie und deinen Vater eingeladen, ohne ernsthaft damit zu rechnen, dass sie tatsächlich auf die Insel kommen würden.«
Hannah weint, und auch ich muss weinen. Ihr Gesicht ist leicht verzerrt, ihr Kinn bebt. Sie greift in die Luft vor meinen Knien und ich reiche ihr meine Hand.
»Es war mein Haus«, schluchzt sie.
Ich drücke meine Finger gegen ihre.
»Fahr mich hin.«
29
Das einst weiße, steinerne Strandhaus liegt aufgeplatzt und versengt im Abendlicht. Absperrband wurde gespannt, um uns und andere fernzuhalten. Durch Löcher in den verkohlten Trümmern glitzert das Meer. Es war das letzte Haus im Ort, dahinter beginnt der Strand, an dem, abgesehen von planschenden Touristen, sicherlich nie viel geschieht. Ich sacke einige Zentimeter ab, mir wird schwindelig. Hannah bleibt stehen und spricht, den Blick zu Boden gerichtet.
»Wir haben das Haus jedes Jahr warten lassen, obwohl solche Pflichten hier leicht umgangen werden können. Das Gutachten im Frühjahr war einwandfrei.«
Ich bohre meinen Zeigefinger in den trockenen Boden und denke, dass es sich mit Häusern wohl ähnlich verhalten kann wie mit Menschen, die zum ärztlichen Check-up antreten,
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