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Am Ende war die Tat

Am Ende war die Tat

Titel: Am Ende war die Tat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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gab Ivan den Flyer zurück. Er wusste, wie gering seine Chancen waren, irgendetwas zu gewinnen, wenn Preisrichter im Spiel waren. »Ich kann überhaupt keine Gedichte schreiben«, erklärte er.
    Ivan entgegnete: »Schon mal versucht? Pass auf. Willst du wissen, was ich darüber denke? Hörst du mir zu?«
    Joel nickte.
    »Das ist doch ein Anfang«, befand Ivan. »Zuhören ist eine gute Sache. Fast so gut wie es selbst auszuprobieren. Und das ist das entscheidende Element der Lebenserfahrung, das so viele von uns meiden, weißt du. Etwas Neues auszuprobieren, den Sprung in das vollkommen und absolut Unbekannte zu wagen. In das Andere. Diejenigen, die den Sprung wagen, können dem
    Schicksal etwas entgegensetzen, das sie andernfalls vielleicht ereilen würde. Sie trotzen den gesellschaftlichen Erwartungen, entscheiden selbst, wer und was sie sein wollen, und lassen nicht zu, dass Geburt, Klasse und Vorurteile ihnen diese Entscheidung abnehmen.« Ivan faltete den Handzettel viermal und steckte ihn in Joels Hemdtasche. »Basement Activities Centre, Oxford Gardens«, fügte er hinzu. »Du kannst das Gebäude nicht verfehlen. Es ist eine dieser Monstrositäten aus den Sechzigern, die sich Architektur schimpfen. Stell dir Betonstuck und angepinseltes Sperrholz vor, und du hast ein ungefähres Bild. Ich hoffe wirklich, dass wir dich dort sehen werden, Joel. Bring deine Familie mit, wenn du willst. Je zahlreicher wir sind, umso besser. Es gibt Kaffee und Kekse danach.«
    Joel trug den Handzettel immer noch mit sich herum, als er und Toby im Zug saßen, auf dem Weg zu ihrer Mutter. Er war immer noch nicht zu einer dieser Führt-Worte-statt-Waffen- Veranstaltungen gegangen, aber der Gedanke an die fünfzig Pfund hatte sich in sein Hirn eingebrannt, so tief, dass die ursprüngliche Idee, an Ivans Filmprojekt teilzunehmen, in den Hintergrund gedrängt worden war. Jedes Mal, wenn ein Führt-Worte-statt-Waffen- Abend sich näherte und verstrich, fühlte Joel sich dem Moment einen Schritt näher, da er genug Mut aufbringen würde, sich an einem Gedicht zu versuchen.
    Doch jetzt galt es erst einmal, den Besuch in der Klinik zu überstehen. Am Empfang schickte man sie dieses Mal nicht ins Obergeschoss, wo der Aufenthaltsraum und das Zimmer ihrer Mutter lagen, sondern durch einen Flur im Erdgeschoss zum Wintergarten, einem verglasten Raum auf der Südseite des Gebäudes.
    Joel wertete dies als gutes Zeichen. Im Wintergarten schränkte nichts die Bewegungsfreiheit der Kranken ein, insbesondere keine Gitter vor den Fenstern. Ein Patient hätte sich also erheblichen Schaden zufügen können, indem er eine der großen Glasscheiben zerbrach, und die Tatsache, dass man Carole Campbell hierhergelassen hatte, schien auf eine Besserungihres Zustandes hinzudeuten - bedauerlicherweise eine gar zu optimistische Schlussfolgerung.
    Kendras gewünschter Effekt des Besuchs bei Carole Campbell stellte sich also in der Tat ein; allerdings nicht für ihre Nichte. Ness war an diesem Tag allein unterwegs gewesen und traf Joel und Toby zweiundvierzig Minuten nach der verabredeten Zeit. Ihre Laune war so miserabel, dass Joel sofort wusste, dass ihr Nachmittag nicht so erfolgreich verlaufen war, wie sie gehofft hatte. Und Joel selbst plagte sich neu mit der Frage, wo er und seine Geschwister in Zukunft leben sollten.
    Ness' Frage - »Und wie geht's der bescheuerten Kuh?« - machte die Dinge keineswegs besser. Ihre Worte und der Tonfall waren nicht gerade eine Einladung, ihr das Herz auszuschütten. Joel hätte ihr gerne die Wahrheit erzählt: dass Carole Toby nicht erkannt hatte, dass sie glaubte, ihr Vater sei noch am Leben, und dass sie auf einer Wolke schwebte, die zu weit entfernt war, um sie zu erreichen. Doch nichts von alledem konnte er in Worte fassen. Also sagte er lediglich: »Du hättest mitkomm' sollen.«
    »Fick dich doch ins Knie«, erwiderte Ness und schlenderte in Richtung Bushaltestelle.
    Als Kendra sie zu Hause fragte, wie der Besuch verlaufen sei, antwortete Joel: Prima, alles bestens, Carole habe sogar im Wintergarten ein paar Blumentöpfe bepflanzt. »Mum hat nach dir gefragt, Tante Ken«, fügte er hinzu. Er konnte nicht verstehen, warum seine Tante sich über diese Lüge nicht zu freuen schien. Er fand, Kendra hätte Caroles angebliche Besserung doch als Hinweis darauf verstehen müssen, dass die Campbell-Kinder nicht für alle Zeiten bei ihr würden wohnen müssen. Doch Kendra schien nicht im Mindesten erfreut. Joels Eingeweide

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