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Am Ende war die Tat

Am Ende war die Tat

Titel: Am Ende war die Tat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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anderen Augen. Er wusste nicht, was er zuerst an ihm bestaunen sollte; so vieles war bemerkenswert an ihm.
    Alles, was Joel herausbrachte, war: »Stanley?« Das musste langen, um all die Fragen zu umfassen, die ihn bewegten, für die er aber keine Worte fand.
    Ivan warf ihm einen Seitenblick zu.
    »The Blade«, hakte Joel nach. »Ich hab noch nie gehört, dass jemand so mit ihm redet. Ich hätt nie gedacht...«
    »Dass jemand das wagen kann und überlebt?« Ivan lachte in sich hinein. »Stanley und ich kennen uns schon seit vielen Jahren. Schon aus Zeiten, da er noch nicht The Blade hieß. Er ist ein hochintelligenter Mann. Er hätte es weit bringen können. Aber sein Fluch war seit jeher, dass er immer auf der Stelle seine Wünsche befriedigen musste, der arme Junge. Sind wir mal ehrlich, das ist der Fluch unserer Zeit. Das Merkwürdige ist, dass dieser Mann ein Autodidakt ist, und das ist der unbefriedigendste Bildungsweg, den man sich nur vorstellen kann. Aber Stanley sieht das anders. Er sieht nur, dass er Herr über seine Studien ist - was immer sie derzeit umfassen mögen -, und das reicht, um ihn glücklich zu machen.«
    Joel schwieg. Sie hatten die Elkstone Road erreicht, und vor ihnen ragte der Trellick Tower auf. Lichter aus seinen zahllosen Wohnungen erhellten den dunklen Nachthimmel. Joel hatte nicht die geringste Ahnung, wovon sein Begleiter eigentlich sprach.
    »Ist das Wort dir bekannt? Autodidakt? Es beschreibt jemanden, der sich selbst etwas beibringt. Unser Stanley - so unglaublich es scheint - gehört zu den Menschen, die die Qualität oder den Inhalt eines Buches nicht allein durch die Betrachtung des Umschlags beurteilen. Wenn man nur sein Äußeres und seine voll beabsichtigte und, wie ich finde, recht charmante Verstümmelung unserer Muttersprache betrachtet, könnte man auf den Gedanken kommen, dass er ein ungebildeter Klotz ohne jegliche Kinderstube ist. Aber das hieße, Mr. Hynds kolossal zu unterschätzen. Als ich ihn kennenlernte - er muss damals ungefähr sechzehn gewesen sein -, lernte er Latein, schnupperte ins Griechische, hatte gerade begonnen, sich mit Naturwissenschaften und der Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts zu befassen. Leider hatte er seine Aufmerksamkeit auch auf die diversen Wege zum schnellen Geld gelenkt, die jene anziehen, denen es nichts ausmacht, sich außerhalb der Gesetze zu bewegen. Und Geld ist immer eine große Verlockung für Jungen, die nie welches hatten.«
    »Wie haben Sie ihn denn kennengelernt?«»Auf der Kilburn Lane. Ich glaube, er wollte mich überfallen, aber ich entdeckte eine eitrige Entzündung an seinem Mundwinkel. Ehe er die Herausgabe meiner ohnehin mageren Barschaft verlangen konnte, führte ich ihn zur nächsten Apotheke, damit die Entzündung fachgerecht versorgt werden konnte. Der arme Junge wusste kaum, wie ihm geschah: Da liegt er auf der Lauer, um ein Verbrechen zu begehen, und im nächsten Moment steht er vor dem Apotheker, Seite an Seite mit dem Mann, den er eigentlich ausrauben wollte, und muss sich eine Salbe empfehlen lassen. Doch alles nahm ein gutes Ende, und er lernte eine wichtige Lektion.«
    »Und zwar?«
    »Dass man eine Hautinfektion nicht ignorieren darf. Gott allein weiß, was passiert, wenn man das missachtet«, gluckste er.
    Joel wusste nicht, was er davon halten sollte. Es schien nur eine logische Frage zu geben: »Warum machen Sie das alles?«
    »Was alles?«
    »Dieses Führt-Worte- Dingsda. Die Art, wie Sie mit Leuten reden. Mich sogar nach Hause bringen.«
    »Warum denn nicht?«, entgegnete Ivan. Sie bogen in den Edenham Way. »Aber das ist keine befriedigende Antwort, oder? Sagen wir, jeder Mensch sollte in der Gesellschaft, in die er hineingeboren wurde, Spuren hinterlassen. Das hier sind meine.«
    Joel hätte gern noch weitere Fragen gestellt, aber sie hatten Kendras Haus erreicht. Vor den Eingangsstufen tippte Ivan wieder an seinen nicht vorhandenen Hut, so wie er es bei The Blade auch getan hatte. »Wir sollten uns bald wieder treffen, ja? Ich würde gern mehr von deinen Gedichten sehen«, sagte er, ehe er zwischen zwei Häusern Richtung Meanwhile Gardens verschwand.
    Joel hörte ihn vor sich hin pfeifen.
    Nach ihrer Begegnung mit Six und Natasha am Queensway spürte Ness den inneren Druck wieder. Das Hochgefühl, das sich eingestellt hatte, als sie mit dem gestohlenen Lippenstiftdie Drogerie unbehelligt verlassen hatte, ebbte nicht ab: Es verpuffte geradezu, so als sei der Hohn ihrer einstigen Freundinnen eine

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