Am Ende war die Tat
Nadel, die eine Seifenblase zerplatzen ließ. Sie fühlte sich schlimmer als zuvor, rastlos, und die Vorahnung eines hereinbrechenden Unheils lastete auf ihr.
Was sie fühlte, wurde verstärkt durch das, was sie hörte. Ihr provisorisches Nachtlager auf dem Wohnzimmersofa im ersten Stock lag direkt unter Kendras Schlafzimmer, schlimmer noch: unmittelbar unter deren Bett, und das allnächtliche rhythmische Knarzen war alles andere als Schlaf fördernd. Und es war wirklich jede Nacht zu hören, manchmal sogar dreimal pro Nacht, und wenn es Ness einmal gelungen war, in einen unruhigen Schlaf zu fallen, weckte es sie stets wieder auf. Häufig begleiteten Stöhnen, Wimmern und kehliges Lachen das Poltern des Bettes gegen Wand und Fußboden. Das gelegentliche »Oh, Baby« signalisierte den Abschluss der Kopulation, kündete in drei ansteigenden Silben vom erzielten Orgasmus, gefolgt von einem letzten Poltern, welches das befriedigte Zurücksinken der Akteure in die Federn markierte. Dies waren keine Laute, die ein heranwachsendes Mädchen gern hörte, erst recht nicht von Erwachsenen, mit denen es unter einem Dach lebte. Für Ness waren sie akustische Folter: ein unmissverständliches Zeugnis von Liebe, Lust und Akzeptanz, ein Beweis dafür, wie begehrenswert, wie liebenswert ihre Tante war.
Die animalische Natur dessen, was zwischen Kendra und Dix vorging, erkannte Ness nicht. Mann und Frau, von Instinkten zur Paarung getrieben, wann immer sie sich unbekleidet in der Nähe des anderen fanden und über genügend Energie verfügten, um die Erhaltung der Spezies zu gewährleisten ... Ness war einfach nicht in der Lage, das zu begreifen. Sie hörte Sex - und dachte Liebe. Kendra besaß etwas, das Ness nicht hatte.
In ihrem Zustand, nach dem Zusammenstoß mit Six und Natasha, erschien Kendras Lebenssituation ihr himmelschreiend ungerecht. Ness sah in ihrer Tante praktisch eine betagte Dame - eine alternde Frau, die ihre Chance bei Männern gehabt hatte und in dem immerwährenden Konkurrenzkampf um männliche Aufmerksamkeit von Rechts wegen beiseitetreten sollte. Ness fing bald an, Kendras schieren Anblick zu verabscheuen. Wenn ihre Tante morgens erschien, war sie unfähig, ihre gehässigen Kommentare zum Morgengruß zu unterdrücken: »War's gut letzte Nacht?« oder »Biste wieder wund zwischen den Beinen, Kendra?« oder »Wie kannste überhaupt noch laufen, du Schlampe?« und »Hat er's dir so besorgt, wie du's gern hast, Ken?«
Kendras Reaktion darauf lautete lediglich: »Wer's wem wie besorgt, geht dich nichts an, Vanessa.« Aber sie machte sich Sorgen. Sie fühlte sich unentrinnbar gefangen zwischen Lust und Pflicht. Sie wollte die Freiheit, mit Dix zu schlafen, wann immer das Verlangen sie überkam, aber sie wollte gleichzeitig nicht für ungeeignet befunden werden, die Campbell-Kinder zu versorgen.
Als Dix sie eines Abends an sich ziehen wollte, sagte sie zu ihm: »Ich glaube, wir sollten es ein bisschen ruhiger angehen lassen, Baby. Ness kann uns hören, und sie ist ... Vielleicht besser nicht jede Nacht, Dix. Was meinst du? Diese Sache ... na ja, diese Sache macht ihr zu schaffen.«
»Dann soll sie ihr eben zu schaffen machen«, lautete seine Antwort. »Sie wird sich daran gewöhnen, Ken.« Er drückte die Nase gegen ihren Hals, küsste sie auf den Mund und ließ die Hand abwärtswandern, bis Kendra den Rücken wölbte, keuchte, stöhnte, verlangte - und Ness vollkommen vergaß.
Also stieg der Druck in Ness immer weiter, und nichts konnte ihn mildern. Sie wusste, sie musste irgendetwas tun, um sich Erleichterung zu verschaffen. Und sie glaubte zu wissen, was dieses Etwas war.
Dix schaute gerade seine Raubkopie von Pumping Iron an, als sie ihr Spiel eröffnete. Wie immer, wenn er sich in einer Wettkampfvorbereitungsphase befand, schenkte er seiner Umgebung weniger Aufmerksamkeit als üblich. Wenn eines seiner Bodybuilding-Events bevorstand, konzentrierte er sich nur darauf, einen neuen Titel oder eine weitere Trophäe zu erringen.
Wettkampf-Bodybuilding hing nicht nur von der Fähigkeit ab, die eigenen Muskeln zu obszönen Proportionen anwachsen zu lassen, sondern fand ebenso im Kopf statt, und Dix bereitete sich tagelang mental darauf vor.
Er saß auf einem Reiskissen, den Rücken ans Sofa gelehnt und den Blick auf den Bildschirm geheftet, wo Arnold auf ewig seine Kräfte mit Lou Ferrigno maß. Er merkte zwar, dass sich jemand neben ihm aufs Sofa setzte, nahm aber nicht zur Kenntnis, um wen es sich handelte.
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