Am Ende war die Tat
zwei der Kids auf dem Kieker haben und nicht mehr nur eins. Und an alledem kann ich nix ändern. Ich kann das Problem nich' aus der Welt schaffen, so wie du's gern hättest. Oder den Grund für dieses Problem. Wie gesagt, ich bin kein Sicherheitsdienst.«
Kendra wollte sich einreden, dass er absichtlich grausam zu ihr war statt einfach nur aufrichtig. Und sie wollte ihm vorlügen, dass ihre Bitte nichts mit Joel zu tun hatte, sondern nur mit Liebe und der Zukunft, die sie zusammen haben könnten. Doch sie war viel zu verblüfft darüber, wie gut er sie kannte - viel besser als sie ihn. Und ebenso war sie erschüttert darüber, dass seine Mutter das Gespräch belauscht hatte, was ihr zufriedener Gesichtsausdruck bewies, als sie aus dem Lagerraum zurückkam, die Salz- und Pfefferstreuer aufgefüllt und einsatzbereit.
»Ich habe gehofft, wir könnten eine Familie sein«, murmelte Kendra.
»Zu einer Familie gehört mehr als das.«
20
Kendra redete sich ein, die Dinge seien gar nicht so schlimm, wie sie aussahen. Da sie wusste, dass Teile von Joels Geschichte der Wahrheit entsprachen, wie die Aussage dieses Ubayy Mochi es immerhin bestätigte, bestand doch die geringe Chance, dass das Feuer auf dem Boot ein Zufallsereignis war, das gar nichts mit den Jungen zu tun hatte, die Joel und Toby drangsaliert hatten. Um das zu glauben, war es notwendig, dass sie andere Aspekte an diesem Vorfall ignorierte - wie etwa die Tatsache, dass Joel mit dem Jungen verabredet gewesen war, mit dem er zuvor mehrere hässliche Zusammenstöße gehabt hatte. Doch sie war gewillt, das zu tun - zu ignorieren. Im Grunde blieb ihr nichts anderes übrig. Joel weigerte sich schließlich, mehr zu sagen.
Kendra dachte, das Leben werde nun vielleicht in etwas ruhigere Fahrwasser geraten. Doch Fabia Benders neuerlicher Besuch im Laden belehrte sie eines Besseren. Die Sozialarbeiterin kam zu Fuß, wie üblich in Begleitung ihrer beiden riesigen Hunde, die sich brav zu Boden fallen ließen, sobald sie ihren Befehl »Platz« hörten. Sie lagen wie Wächter auf beiden Seiten der Tür, was Kendra als höchst unangenehm empfand.
»Sie werden die Kunden vergraulen«, sagte sie, als Fabia Bender die Tür schloss. Es regnete, und die Sozialarbeiterin trug einen knallgelben Regenmantel mit einem passenden Hut von der Sorte, wie Fischer sie bei einem heftigen Sturm tragen. Für die Londoner Innenstadt schien es eine seltsame Aufmachung - nicht aber für Fabia Bender. Sie nahm den Hut ab, den Mantel behielt sie an, und dann zog sie ein Faltblatt aus der Tasche.
»Dauert nur eine Sekunde«, versicherte sie Kendra. »Erwarten Sie einen großen Ansturm? Gibt es einen Sonderverkauf oder Ähnliches?«
Sie sagte es ohne Ironie und sah sich im Laden um, als suche sie nach Anzeichen, dass Kendra im nächsten Moment mit zwei Dutzend Kunden zu kämpfen haben würde, die um gebrauchte Schuhe und Jeans aus dritter Hand rangelten. Sie wartete jedoch keine Antwort ab, sondern trat an den Ladentisch, wo Kendra an der Kasse stand und in einer alten Ausgabe von Vogue geblättert hatte. Sie habe über Joel nachgedacht, sagte Fabia. Auch über Ness, aber vor allem über Joel.
Kendra stürzte sich dankbar auf das Thema Ness. »Sie hat doch nicht etwa ihren Dienst geschwänzt?«
»Nein, nein«, versicherte Fabia eilig. »Sie scheint sich dort wirklich ganz gut zu machen.« Sie erzählte Kendra nichts von ihren Bemühungen, Ness bei ihrem unlängst entdeckten, aber etwas überraschenden Wunsch behilflich zu sein, eine Hutmacherlehre zu absolvieren. Damit stand es nicht so gut, wie sie gehofft hatte. Es gab so viele junge bedürftige Menschen und zu wenig Geld, um sie alle zu unterstützen. Sie legte das Faltblatt auf die Theke und sagte: »Es gibt da ... Mrs. Osborne, es gibt vielleicht eine Möglichkeit für Joel. Mir ist zufällig dieses Infoblatt ... na ja, eigentlich nicht zufällig. Ich habe es schon eine ganze Weile, aber wegen der Entfernung habe ich gezögert. Weil es hier, nördlich der Themse, nichts Vergleichbares gibt... Es ist ein Förder- und Freizeitprogramm für Jugendliche. Hier, sehen Sie selbst.«
Wie sich herausstellte, war Fabia Bender gekommen, um Kendra ein Programm für potenziell gefährdete Jugendliche vorzustellen. Es nannte sich »Colossus« und wurde von einer Gruppe privater Initiatoren in Südlondon betrieben. Das bedeute natürlich eine sehr weite Fahrt für einen Jungen, der so weit nördlich des Flusses lebte, räumte Fabia ein, aber da es
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