Am ersten Tag - Roman
so wie wir ihn von hier aus beobachten können, mit dem, den dein Anhänger uns enthüllt hat, vergleichen zu können. Vielleicht erhalte ich dadurch wertvolle Informationen.«
»Hättest du diese Koordinaten nicht auf einer Landkarte finden können?«
»Ja, aber das ist anders, als wenn man direkt vor Ort ist.«
»Inwiefern?«
»Es ist einfach nicht dasselbe und fertig.« Und während ich das sagte, wurde ich rot wie ein Schuljunge. »So ungeschickt, wie Sie sich anstellen«, hätte Walter gesagt, wäre er dabei gewesen.
Die Sonne neigte sich, und wir mussten schnell zum schwarzen Sandstrand und zu unserem Boot zurück. Wir würden in dem Nomadendorf übernachten, durch das wir auf dem Hinweg gekommen waren. Als wir uns dem gegenüberliegenden Ufer näherten, bemerkten Keira und ich, dass irgendetwas nicht stimmte. Alle Türen unseres Jeeps standen offen, und der Stammeschef war nicht zu sehen.
»Vielleicht hält er nur ein Nickerchen im Wageninneren«, sagte Keira, um sich zu beruhigen. Doch in Wirklichkeit waren wir beide besorgt.
Sobald wir das Boot an Land gezogen hatten, machten sich die Fischer auf den Weg, um vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause zu kommen. Keira rannte zu unserem Jeep, ich folgte ihr. Und dann mussten wir feststellen, dass das denkbar Schlimmste geschehen war.
Der Dorfälteste lag am Boden, das Gesicht im Kies. Ein schon schwärzlicher Blutfaden rann von seiner Schläfe und verlor sich zwischen den Steinen. Keira beugte sich über ihn und drehte ihn mit größter Vorsicht um, doch seine glasigen Augen ließen keinen Zweifel zu. Keira kniete neben ihm nieder, und ich sah sie zum ersten Mal weinen.
»Wahrscheinlich ein Unwohlsein, das ihn zu Fall gebracht hat. Wir hätten ihn niemals allein lassen dürfen«, sagte sie unter Schluchzern.
Ich nahm sie in die Arme, und so standen wir lange Zeit da und wachten über den Leichnam dieses alten Mannes, dessen Tod mich seltsam berührte. Die tiefblaue Nacht funkelte über uns und über der letzten Ruhe eines alten Stammeschefs. Ich hoffte, dass in dieser Nacht ein weiterer Stern am Himmel aufleuchten würde.
»Morgen früh müssen wir die Behörden benachrichtigen.«
»Bloß nicht«, erwiderte Keira. »Wir befinden uns auf kenianischem Boden, und wenn sich die Polizei einmischt, behalten sie den Toten, bis die Ermittlungen abgeschlossen sind. Sollten sie eine Autopsie vornehmen, so wäre das eine große Schmach für den Stamm. Wir müssen ihn zu den Seinen zurückbringen, er muss in den nächsten vierundzwanzig Stunden beerdigt werden. Sein Dorf wird ihm die letzte Ehre erweisen wollen, wie es ihm zusteht. Schließlich ist er für sie eine bedeutende Persönlichkeit, er ist ihr Vorbild, ihr Wissen und ihr Gedächtnis. Man darf nicht gegen ihre Riten verstoßen. Allein die Tatsache, dass er auf fremdem Boden gestorben
ist, wird ein Drama für sie sein. Viele werden eine Art Fluch darin sehen.«
Wir wickelten ihn in eine Decke, und nachdem wir ihn auf dem Rücksitz des Jeeps abgelegt hatten, fielen mir Reifenspuren neben unserem Fahrzeug auf. Ich entsann mich mit einem Mal der Staubwolke, die ich vom Boot aus beobachtet hatte. War es möglich, dass der Tod des alten Stammeschefs nicht die Folge eines Schwächeanfalls und eines unglücklichen Sturzes war? Was hatte sich in unserer Abwesenheit wirklich zugetragen? Während sich Keira innerlich sammelte, suchte ich im Schein einer Taschenlampe, die ich im Handschuhfach gefunden hatte, den Boden genauer ab. Fußspuren umgaben unseren Wagen - zu viele, als dass sie allein von uns hätten stammen können. Waren es die der Fischer, die uns begleitet hatten? Doch ich konnte mich nicht erinnern, dass sie sich von ihren Booten entfernt hätten, ja, ich hätte fast beschwören können, dass wir auf sie zugegangen waren und nicht umgekehrt. Ich zog es vor, Keira nichts davon zu sagen, sie war so schon niedergeschlagen genug. Wozu sollte ich sie mit meinem Argwohn, der sich auf nichts weiter als Reifen- und Fußspuren gründete, zusätzlich beunruhigen? Wir schliefen ein paar Stunden in Decken gehüllt am Strand.
Im Morgengrauen setzte sich Keira ans Steuer. Auf dem Weg ins Omo-Tal murmelte sie:
»Mein Vater ist auf ähnliche Weise gestorben. Ich war einkaufen gefahren, und als ich zurückkam, fand ich ihn tot auf der Veranda des Hauses vor.«
»Tut mir leid«, stammelte ich.
»Weißt du, das Schlimmste war nicht, ihn so auf den Stufen daliegen zu sehen. Nein, das Schlimmste kam danach. Nachdem
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