Am ersten Tag - Roman
Tage?«
Und als ich ihr anvertraute, dass ich vorhatte, mehrere Wochen bei ihr zu verbringen, entspannte sich meine Mutter endlich und umarmte mich zärtlich. Ich schwor ihr, dass sie sich nicht verändert hätte, sie tätschelte meine Wange und nannte mich einen Lügner, nahm das Kompliment aber trotzdem gerne an. Daraufhin eilte sie in die Küche und machte eine Bestandsaufnahme ihrer Vorräte an Mehl, Zucker, Milch, Eiern, Fleisch und Gemüse.
»Dürfte ich wissen, was du vorhast?«, fragte ich.
»Stell dir vor, ich habe einen Sohn, der überraschend hier aufkreuzt,
nachdem er mich über zwei Jahre nicht mehr besucht hat. Und da er es fertiggebracht hat, erst am späten Nachmittag zu erscheinen, bleibt mir nur eine knappe Stunde, um ein Fest zu organisieren.«
»Ich möchte eigentlich nur mit dir zusammen zu Abend essen. Lass mich dich in ein Restaurant am Hafen einladen.«
»Und ich möchte eigentlich dreißig Jahre jünger und für immer von meinem Rheuma befreit sein.«
Mama schnippte mit den Fingern und rieb sich das Kreuz.
»Aber wie du siehst, wurde ich nicht erhört, und ich ziehe daraus den Schluss, dass unsere beiden Wünsche heute nicht in Erfüllung gehen werden. Wir machen also ein Festessen, das dieser Familie und ihrem Ruf würdig ist. Glaub ja nicht, dass deine Ankunft auf der Insel unbemerkt geblieben ist.«
Ich versuchte erst gar nicht, sie in diesem Punkt umzustimmen - ebenso wenig übrigens wie in allen anderen. Jeder im Dorf hätte volles Verständnis dafür gehabt, dass wir beide den ersten Abend allein zusammen verbringen, doch meine Ankunft zu feiern, war meiner Mutter ein echtes Bedürfnis, und ich wollte sie auf keinen Fall um dieses Vergnügen bringen.
Die Nachbarn brachten Wein, Käse und Oliven mit, die Frauen deckten den Tisch, die Männer stimmten ihre Musikinstrumente. Bis spät in die Nacht hinein wurde getrunken, getanzt und gesungen, und ich hatte eine kleine private Aussprache mit meiner Tante, um ihr für ihre Diskretion zu danken. Sie beteuerte, überhaupt nicht zu wissen, was ich meinte.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war meine Mutter schon lange auf den Beinen. Alles war aufgeräumt und sauber, und nichts im Haus deutete auf die nächtlichen Festivitäten hin.
»Was hast du hier in den nächsten Wochen vor«, fragte Mama, während sie mir Kaffee einschenkte.
Ich zwang sie, sich zu mir zu setzen.
»Zunächst einmal, mich nicht von früh bis spät von dir bedienen zu lassen. Ich bin hier, um mich um dich zu kümmern, nicht das Gegenteil.«
»Dich um mich kümmern! Dass ich nicht lache! Seit Jahren bin ich daran gewöhnt, mich um mich selbst zu kümmern! Einmal abgesehen von Elena, die kommt, um die Wäsche aufzuhängen, der ich aber im Gegenzug in ihrem Laden aushelfe, brauche ich niemanden.«
Ohne Tante Elena würde sich meine Mutter sehr viel einsamer fühlen. Und während ich mein Frühstück zu mir nahm, hörte ich, wie sie meinen Koffer auspackte und die Sachen einräumte.
»Ich sehe dich mit den Schultern zucken!«, rief sie vom Fenster meines Schlafzimmers aus.
Ich verbrachte den ersten Ferientag damit, mich wieder mit den Landschaften der Insel vertraut zu machen. Der Esel von Kalibanos führte mich über die schmalen Pfade. Ich hielt in einer kleinen Bucht und nutzte die Tatsache, dass ich allein war, um schnell ins Meer einzutauchen und ebenso rasch wieder aus dem kalten Wasser fröstelnd auszusteigen. Ich aß mit meiner Mutter und meiner Tante im Hafen zu Mittag und lauschte den alten Familiengeschichten, Erinnerungen, die beide wohl schon hundertmal erzählt hatten. Kommt irgendwann im Leben ein Punkt, an dem das Glück vorbei ist und man nichts mehr erwartet? Ist es das, was man unter »altern« versteht? Wenn man heute nur von gestern spricht, wenn die Gegenwart nichts als Wehmut ist, die man schamhaft hinter lautem Lachen verbirgt?
»Was schaust du uns so an?«, wollte meine Tante wissen und trocknete sich die Augen.
»Nichts … Ich frage mich nur: Wenn ich wieder in London
bin, esst ihr beide dann an diesem Tisch und denkt an dieses Essen als eine schöne Erinnerung?«
»Natürlich! Warum stellst du eine so alberne Frage?«
»Weil ich mich auch frage, warum ihr nicht jetzt diesen schönen Tag genießt, statt zu warten, bis ich fort bin.«
»Deinem Sohn hat zu lange die Sonne gefehlt«, sagte Elena zu meiner Mutter. »Ich verstehe kein Wort von dem, was er da redet.«
»Ich schon« erwiderte meine Mutter und lächelte mich an.
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