Am Freitag schwarz: Kriminalroman (German Edition)
meisten Wochenenden kommt sie vorbei und nimmt Jason für ein, zwei Stunden, aber sie bleibt nie länger. Sie hat Freunde, unten in Morgan City.«
Inmitten all der Andeutungen, Halbinformationen und höflichen Ausweichmanöver war eines doch unübersehbar – ja, sprang mich förmlich an. Es war mir unbegreiflich, dass ich es nicht früher kapiert hatte.
»Kid ist hier? Wo? Ich will ihn sehen!«
Kid: Mein Sohn hatte sich gegen jeden anderen Rufnamen, den wir ihm gaben, erfolgreich gewehrt. »Jason« war, wie es schien, mein Name, und es verwirrte und ärgerte ihn, wenn wir ihn auch so nannten. »Junior« war noch schlimmer. Angie hatte ihn »Boo« genannt, aber so nannte sie mehr oder weniger jeden irgendwann einmal. »Kid« war schließlich geblieben.
Mamma sah umständlich auf die Uhr. »Er schläft gerade, aber ich schätze, bald wacht er auf. Wecken darf man ihn nicht. Wie war das mit den schlafenden Hunden? Du weißt schon. Er kann richtig Terror machen, wenn man ihn weckt.«
»Ich möchte ihn sehen. Ich wecke ihn bestimmt nicht, aber ich will ihn unbedingt sehen.« Ich hatte nicht zeigen wollen, wie dringend mein Wunsch war, aber letztlich bettelte ich regelrecht.
Mamma seufzte. »Also gut. Aber wenn er aufwacht, nimmst du das auf deine Kappe. Du ahnst gar nicht, was du verlangst, mein Junge.«
Das letzte Zimmer oben, das nach vorn rausging, war von außen mit einem Haken verschlossen. Vorsichtig löste Mamma ihn. Zorn wallte in mir auf. Ich fragte, wieso mein Sohn eingeschlossen wurde wie ein lästiges Haustier, aber sie hob nur einen Finger an die Lippen und schüttelte den Kopf. Langsam stieß sie die Tür auf, und ich trat in den abgedunkelten Raum.
Trotz der dunklen Vorhänge und obwohl es keine Klimaanlage gab, herrschte eine erträgliche Temperatur. In einerEcke summte ein Ventilator. Die Möbel waren nur als dunkle Umrisse zu erkennen, aber ein wenig von dem matten Licht im Flur fiel auf das Bett an der gegenüberliegenden Wand. Auf einem zerknitterten Star-Wars -Laken lag, die dünne Decke bis zu den Knöcheln weggestrampelt, mein Sohn. Angies Sohn – ihr genetischer Einfluss war nicht zu übersehen. Der Junge sah aus wie eine Miniatur-Replik seiner Mutter. Er war schön. Das Kleinkindgesicht und die platinblonden Haarfusseln aus meiner Erinnerung hatten sich in ein fein geschnittenes, elfenhaftes Oval und einen welligen rotblonden Schopf verwandelt. Am liebsten wäre ich zu ihm gestürmt und hätte ihn in die Arme genommen, um ihn für jeden Tag, den ich nicht bei ihm gewesen war, um Verzeihung zu bitten. Mamma spürte meinen Aufruhr und legte mir eine Hand auf den Arm. Dann schüttelte sie erneut den Kopf und zog die Tür wieder zu. Ich schluckte. Ich nickte. Ich konnte warten.
Wir kehrten auf die Veranda zurück.
»Setz dich. Setz dich.«
»Warum zum Teufel sperrst du ihn ein, Mamma? Was soll das?«
Wenn sie zusammenzuckte, dann wegen meiner gotteslästerlichen Ausdrucksweise und nicht wegen der Frage selbst. Sie nahm meine Hand. »Ach, mein Junge. Dein Kleiner verletzt sich andauernd. Er springt, er hüpft. Er denkt, er kann fliegen. Wenn ich ihn nicht ständig im Auge habe, bricht er sich noch einen Arm, ein Bein oder das Rückgrat.«
Für mich alles Dinge, die jeder fünfjährige Junge ausprobiert. Ich biss die Zähne zusammen.
»Du denkst jetzt vielleicht«, fuhr sie fort, »das ist doch ganz normal, so was machen fünfjährige Jungen nun mal, und ich widerspreche dir nicht. Nur kennst du deinen Sohn nicht. Was er tut, ist nicht normal, und wenn ich nicht denganzen Tag auf ihn aufpasse, treibt er es so weit, dass er ins Krankenhaus muss.«
Da saß sie, hielt meine Hand und sah mir in die Augen. Die Jahre, die zwischen uns lagen, schwanden dahin. Sie war nicht einfach meine Schwiegermutter, ex oder nicht ex. Sie zeigte mir, dass sie auf meiner Seite war, dass sie mich verstand. Ich holte tief Luft und stieß einen Schluchzer aus, der uns beide überraschte.
»Schon gut, es geht wieder. Danke. Du hast recht, ich kenne mich nicht aus. Während ich weg war, habe ich ein paar Sachen gelesen, Bücher, Zeitschriftenartikel, was ich so kriegen konnte. Aber du hast natürlich recht. Ich kenne mich nicht aus.« Ich hatte genug gelesen und wusste genug, um zu wissen, dass ich im Grunde gar nichts wusste. Trotzdem lebte ich in dem Gefühl, mehr zu wissen als manch anderer. Ich musste wachsam sein, den richtigen Augenblick abwarten und dann entscheiden, was zu tun war.
»Ich bete jeden Tag
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