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Am Freitag schwarz: Kriminalroman (German Edition)

Am Freitag schwarz: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Am Freitag schwarz: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Sears
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passiert. Du hast keine Ahnung, wirklich keine Ahnung, was es heißt, jeden verdammten Tag mit diesem Jungen zusammen zu sein.«
    Jetzt beugte ich mich vor. Sie sollte wissen, dass ich sie verstand. Dass ich sie ernst nahm. »Hör zu, Angie. Ich habe, als ich da oben war, sämtliche Bücher über Autismus gelesen, die ich nur kriegen konnte. Ich habe meinen Vater gebeten, mir Material zu schicken, Bücher, Zeitschriften, alles, was mir helfen könnte zu verstehen, was du durchmachst. Du hast recht. Ich weiß nicht, wie es ist, jeden Tag mit ihm zusammen zu sein, aber ich habe mich bemüht, ich hab’s versucht! Ich habe versucht, es zu verstehen.«
    Sie ließ sich in den anderen Korbstuhl fallen. Sie wirkte weich, zart. Wie gern hätte ich sie gestreichelt und gesagt, dass ich alles in Ordnung bringen könne. Dass ich die Bücher gelesen hätte und dazu in der Lage sei. Dass sie einfach nur mit mir zu kommen brauche.
    Aber wenn Angie weich wirkte, hieß das noch lange nicht, dass sie es auch wirklich war. Auch Verletzlichkeit war am Ende nur eine Pose.
    »Du glaubst, du weißt was, nur weil du ein Buch gelesen hast?« Ihr Ton war gemein. »Dann weißt du also, was HFA bedeutet? Oder meinst du vielleicht, dein Sohn ist eher ein Savant mit Asperger-Syndrom? Und was hältst du von der Chelat-Therapie? Sind wir schuld, weil wir ihn gegen Masern haben impfen lassen? Willst du ihm erklären, dass er sein Eis nicht essen darf, weil er mit Kasein vorsichtig sein muss? Hast du je glutenfreies Brot gekostet? Wie oft hast du mit ihm in einer Arztpraxis gesessen, hast gewartet und gebetet, während sie ihre Tests durchgezogen haben, und dann gesehen, wie sie wieder reinkamen, und der Junge war ganz still und starr und eingesunken, und du hast dich gefragt, was zum Henker sie da drin mit ihm gemacht haben? Und dann hörst du dir von noch einem Harvard-Absolventen an, dass er nicht weiß, was es ist. Er weiß es nicht! Es könnte das Asperger-Syndrom sein. Autismus. Und weißt du, was mein Favorit ist, Jason?«
    Ich schüttelte den Kopf – um die Frage zu beantworten, aber auch als Reaktion auf den gesamten Angriff.
    »Tiefgreifende Entwicklungsstörung, PDD, Pervasive Development Disorder. Das sagt mir erst mal gar nichts. Und dann der Zusatz ›nicht näher bezeichnet‹, NOS, Not Otherwise Specified. Das heißt doch, in eine Sprache übersetzt, die auch ein Devisenhändler und ein Model verstehen: IWÜN, ich weiß überhaupt nichts!«
    Ich griff nach ihrer Hand.»Ich möchte wenigstens eine Chance haben zu verstehen, Angie. Ich schaffe das.«
    Sie lehnte sich zurück, verschränkte die Arme, senkte den Kopf und sprach in Richtung Fußboden. »Und an dem Abend, als er so schlimm geblutet hat, warst du auch nicht da. Er hatte sich den Kopf am Couchtisch aufgeschlagen, und das nicht zum ersten Mal, weil er zwar schon fast drei war, aber immer noch nicht laufen konnte. Ich hab ihn ins St.Vincent’s Hospital gebracht – er hat die ganze Zeit gesungen, als wär’ gar nichts gewesen, als würde er nicht mal was spüren –, und während sie ihn noch genäht haben, hat die Schwester mich in ein anderes Zimmer geholt. Und weißt du, was da passiert ist?«
    Ich ahnte es, aber ich nahm an, dass sie gar keine Antwort wollte.
    »Da sind zwei Detectives. Vom New York Police Department. Diese verdammten Law-and-Order -Typen löchern mich, warum ich mein Kind geschlagen habe. Und in der Ecke hockt so eine fette Kuh vom Sozialdienst und grinst, als ob sie es kaum erwarten kann, sich auf mich zu stürzen. Sie haben mich pusten lassen!« Sie nahm noch einen Schluck aus der Evian-Flasche.
    Zu einem anderen Zeitpunkt hätte das witzig sein können.
    »Das tut mir leid. Das muss sehr unangenehm gewesen sein.«
    Angie lachte laut los, aber es gab nichts zu lachen.
    »Unangenehm? Nein. Vielleicht war es mir unangenehm, mitten in der Nacht den Kinderarzt anzurufen und ihn zu bitten, dass er den Polizisten erklärt, dass mein Sohn oft stürzt. So was spricht man nicht gern auf eine Mailbox. Polizei und Kinderarzt sollten eigentlich nichts miteinander zu tun haben. Nein, Jason, es war nicht unangenehm. Ich war sauer. Richtig, richtig stinksauer, weil du nicht da warst. Weil du mir nicht geholfen hast. Weil du unserem Sohn nicht geholfen hast.«
    Ich war nicht da gewesen, weil ich im Gefängnis saß. Diese Tatsache würde mir noch lange zu schaffen machen.
    »Jetzt bin ich da, Angie. Und ich bin bereit, meinen Teil zu übernehmen. Wir schaffen das.

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