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Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)

Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)

Titel: Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kylie Fitzpatrick
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aufgesetzten Fröhlichkeit war so etwas wie Mitleid zu erahnen. In diesem freudlosen Dasein war selbst das Mitgefühl eines unbefangenen Jungen willkommen. Rhia versuchte zurückzulächeln, aber die Muskeln ihres Gesichts waren vor lauter Gefühlschaos wie eingefroren.
    »Sie brauchen nur ’nen Schritt oder zwei zu gehen«, sagte er, »und schon können Sie das Meer und den Himmel sehen. Das gibt’s in London nich!« Albert vermutete wohl, dass sie das trösten würde. Wie sollte er auch wissen, dass das Meer das Letzte war, was sie anschauen würde, um sich trösten zu lassen. Als er gegangen war, lehnte sie sich an die nackten Bretter der Wand und hörte auf sich zu verstellen.
    Sie nahm die Kappe ab und legte sie so vorsichtig auf das Regal, als würde sie ein Spitzendeckchen arrangieren. Eine Flutwelle von Gefühlen raste ohne Vorwarnung auf sie zu. Zuerst erreichte sie ihre Beine, so dass Rhias Knie nachgaben. Sie rutschte an der Wand herunter, bis sie am Boden kauerte, und barg den Kopf in den Händen. Sie versuchte, Gründe zu finden, weshalb sie dankbar sein sollte: Sie würde nicht jahrelang in einem Gefängnisschiff vermodern, man hatte sie nicht zum Tode verurteilt, sie war nicht krank, sie war nicht schwanger. Doch die Verzweiflung ließ nicht nach. Rhia schluchzte so lange, bis sie leer war, körperlich und seelisch.
    Das Einzige, was sie, abgesehen von ihren vergossenen Tränen, anschauen konnte, war der unförmige Sack. Rhia wischte sich mit der Schürze die Augen ab und knotete das Stück Schnur auf, mit dem er verschlossen war. Sie beugte sich näher darüber, um lesen zu können, was entlang des Saums an der Öffnung des Sacks gestickt war. Es handelte sich um eine Erinnerung daran, dass es sich hierbei um ein großzügiges Geschenk des Sträflingsschiff-Komitees der British Society of Ladies handelte. Es hätte sie wieder zum Weinen bringen können, doch sie war erschöpft.
    Oben auf dem Sack lag ein flaches, rechteckiges Paket, das in braunes Papier eingewickelt war. Das musste das Päckchen sein, das für sie in Millbank abgegeben wurde, vermutlich von Dillon. Sie packte ihr rotes Zeichenbuch aus. Am Rücken war mit Hilfe eines Bandes Mamos Füller zusammen mit einem kleinen Silberschlüssel befestigt. Rhia brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass das der Schlüssel zu ihrem Handkoffer war. Sie stellte das Buch vorsichtig aufs Regal. Sie war doch nicht so allein. Der nächste Gegenstand war, wie erwartet, eine Bibel. Sie legte diese zur Seite. Vielleicht würde sie nie wieder wagen, eine weitere Bibel zu öffnen. Rhia zog eine Schürze aus Sackleinen heraus und dann noch eine aus schwarzem Baumwollstoff, eine schwarze Kappe, einen Kamm, zwei Schnürsenkel, Messer und Gabel, einen Knäuel Schnur. Danach kam eine Tasche für Bettzeug und eine kleinere, die Stecknadeln, Nähnadeln und Nähgarn in Schwarz, Weiß, Rot und Blau enthielt. Es gab außerdem zwei Knäuel schwarzes Kammgarn und verschiedene Stränge farbiges Stickgarn. Und Stopfnadeln, eine Ahle, ein Fingerhut und eine Schere.
    Der restliche Sack war mit Patchwork-Stücken gefüllt. Dies waren die Stoffreste, die Antonia und ihre Freunde von den Schneidern, Tuchhändlern und Ausstattern gesammelt hatten, einschließlich des Geschäfts der Montgomerys. Rhia rang sich ein kleines, trockenes Lächeln ab. Wer hätte gedacht, dass sie mal von der Quäker’schen Gefängnisreform profitieren würde.
    Sie legte ihre gefalteten Schürzen und die Kappe auf das Regal und die anderen Gegenstände daneben. Sie würde sich die Freude, die verschiedenen Gewebe und Drucke anzuschauen, für eine andere Gelegenheit aufheben. Es gab sonst nichts, worauf man sich freuen konnte. Ihre Glieder waren schwer und ihr Herz leer, aber sie war gefasst. Der erste Sturm war überstanden.
    Schließlich fiel Rhia auf, dass es eigentlich keinen Grund gab, auf dem Boden zu sitzen, wenn es doch eine Hängematte zum Hineinlegen gab. Rhia kletterte hinein und deckte sich mit einer schweren Wolldecke zu. Sie roch nach Moder und war kratzig auf der Haut, aber wenn Rhia die Augen schloss, konnte sie sich gerade noch das Gefühl von Batistlaken und weichen Eiderdaunendecken vorstellen.
    Wenn der heutige Tag ein Stoff wäre, dann wäre es das feste Leinen, das man für Segeltuch verwendete.

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    G ABARDINE
    Das Klopfen durchschnitt den Traum einer Halbmondsichel, die wie eine Hängematte über einer Grube voll juwelenbesetzter Seeschlangen schaukelte. Es war ein Traum im

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