Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
den Brief wieder sorgfältig zusammen und schob ihn in ihre Tasche zurück. Dann nahm sie ihr Skizzenbuch vom Regal, das sie erreichte, ohne dazu die Hängematte verlassen zu müssen, und knotete das Band um ihren hübschen Füllhalter auf, so dass der kleine Schlüssel zu ihrem Handkoffer immer noch mit einem engen Knoten daran befestigt war. Das Bändchen war lang genug, um es sich um den Hals zu binden, so dass der Schlüssel in ihrem Unterkleid versteckt war. Der Füllhalter war gut gefüllt, das konnte sie an seinem Gewicht erkennen. Sie sah die feinen Gravuren auf dem Schaft, das geschwungene Muster des dreiteiligen Knotens, das Symbol für alles, was heilig war, wenn man den alten Geschichten glaubte. Der Knoten stand für die drei Schicksale: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er symbolisierte die Dreieinigkeit von Seele, Geist und Körper – lange bevor die Dreifaltigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist erdacht worden war. Es waren die drei Phasen des Mondes, von denen die Gezeiten des Ozeans und die der Frauen bestimmt wurden. Manche sagten, er sei die dreifache Göttin.
Das rote Buch fühlte sich dicker an als sonst. Ein Stück Stoff war zwischen den Seiten eingeklemmt. Rhia nahm den gefalteten Stoff heraus, schlug ihn auseinander und starrte ihn verwirrt an. Es handelte sich um ihren Chintz, um die Probe, die Thomas für sie gewebt hatte. Das Rechteck gemusterten Leinens war wie ein Fenster zu einem Ort, wo es schillernde Vögel und Blumen und knorrige Äste mit leuchtenden Beeren gab.
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K NOTEN
19. April 1841
Albert versichert mir, dass er noch nie jemanden an Seekrankheit hat sterben sehen, was mich überrascht. Die einfache Aufhängung der Hängematte mit Knoten und Schlaufen gleicht das Schaukeln des Kiels aus, so dass die Hängematte ruhig bleibt, während das Schiff über die Wellen schlingert. Mehr oder weniger ruhig. Mein Magen jedoch nicht. Albert sagt, die Übelkeit hat etwas mit dem Gleichgewicht zwischen meinem Bauch und dem des Schiffes zu tun. Er bringt mir jeden Morgen meine Ration aus drei halben Litern frischem Wasser (ohne einen Tropfen davon zu verschütten, sagt er), und sein Gesicht ist fast das einzige, das ich gesehen habe, abgesehen von Miss Hayter, die jeden Tag vorbeischaut und mir einen Pfeilwurzkeks und Ingwersirup bringt – die vom Schiffsarzt verordnete Medizin gegen Übelkeit. Miss Hayter berichtet mir, dass die Hälfte der Frauen unten und die meisten der Aufpasserinnen ebenfalls darunter leiden, so dass es bisher unmöglich war, irgendeine Art festen Tagesablauf einzuführen. Das scheint sie zu enttäuschen. Wenn ich etwas über ihren Charakter gelernt habe, dann, dass sie Ordnung und Routine liebt. So ist sie für ihren Beruf bestens geeignet.
Was meine tägliche Wasserration betrifft, so kann ich mir aussuchen, ob ich sie trinken möchte oder mich damit waschen. Albert rät zum Trinken, da es mehr als genug Seewasser zum Waschen gibt. Er sagt, die Krankheit sollte sich legen, bevor wir Brasilien erreichen, obwohl er auch schon welche gesehen hat, die die gesamte Reisezeit zwischen Woolwich und Rio über die Reling gebeugt verbracht haben. Anscheinend absolut nicht seetauglich. Laut Albert dauert die Reise nach Rio vier Wochen, also müssen wir schon fast die halbe Strecke dorthin zurückgelegt haben. Mir geht es heute besser, aber ich habe trotzdem fast eine Stunde gebraucht, um das hier zu schreiben, und es ist krakelig und die Tinte ist verlaufen. Ich sollte besser sparsam damit umgehen, da ich keine Ahnung habe, wie und wann ich mehr davon bekommen kann.
Albert klopfte an ihre Tür, während Rhia vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte und sich dabei an der Wand abstützte.
»Wenn Sie auf den Beinen sind, Mahoney, dann sollen Sie hoch an Deck kommen, sagt Ihre Oberin. Ich warte auf Sie, wenn Sie wollen.«
Wenigstens hatte die Krankheit Zuflucht vor den anderen und vor Mr Reeve geboten. Rhia stöhnte, als sie die steife schwarze Stoffkappe über ihre gestutzten Haare zog und die schwarze Schürze über ihren Kittel band. Die kratzige Mischung aus Wolle und Flachs reizte ihre Haut mehr als normal, aber zumindest war sie warm. Natürlich nicht auf dieselbe Weise wie das weiche Streichen von Kaschmir-Unterkleidern über Seidenstrümpfe. Rhia hatte den Eindruck, als sei ihr immer kalt gewesen. In Millbank war die Feuchtigkeit der Fluss-Steine in alles hineingekrochen und hatte sie bis auf die Knochen durchgefroren. Jetzt war ihre Kleidung stets
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