Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
entlassen.«
Rhia grub die Fingernägel in die Handflächen, als sie den schaukelnden Weg zu ihrer Kajüte zurücklegte. Sie war selber schuld. Sie war eine Gefangene und eine Bedienstete, und ihre Selbstachtung war ihr bereits abhandengekommen. Es war so selbstverständlich geschehen. Wenn sie nicht aufpasste, würde ihr Geist vollends erlöschen. Welch Ironie, dass sie vor gar nicht allzu langer Zeit noch geglaubt hatte, nicht mehr zu wissen , wer sie eigentlich war. Wusste sie es jetzt? Wenigstens hatte sie herausgefunden, dass Mr Reeve keine Ironie verstand. Sie würde in Zukunft besser aufpassen müssen.
Sie probierte eine breitbeinigere Gangart aus, bis sie ihre Kajüte erreichte. Jeder Schritt traf früher auf Deck auf, als sie es erwartete. Ihr wurde schlecht beim Gedanken daran, dass die Anderswelt sich in mehr als einer Hinsicht aufbäumte, um ihr entgegenzukommen. Rhia warf einen vorsichtigen Blick hinaus aufs Meer. Es war taubengrau und glatt wie Seide. Die Farbe und der Stoff, dessen Namen sie dem Morgen nach dem Feuer gegeben hatte. War dies der Grund, weshalb Mamo sie weggeschickt hatte? Welch gerechte Strafe dafür, auf einen Geist gehört zu haben.
Die Segel waren gehisst worden. Rhia zählte sie. Fünf waren rechteckig und am Haupt- und den Kreuzmasten befestigt, eins, hinten am Schiff, war klein und dreieckig. Sie bemerkte die beiden Seemänner kaum, die an ihr vorbeieilten, den Gestank nach Schweiß und feuchtem Segeltuch, der ihnen nachhing, dagegen schon. Sie spürte, wie die Takelage erzitterte, und dann das rhythmische Schaukeln in der Tiefe des Rumpfes. Sie holten den Anker ein.
So rasch sie konnte, lief Rhia zurück zu ihrer Kammer. Als sie sicher in ihrer Hängematte lag, richtete sie den Blick starr an die Decke. Sie würde, nein, sie konnte nicht zusehen, wie die Küste verschwand, zusammen mit all ihren Hoffnungen. Nichts und niemand konnte sie jetzt noch retten.
Du musst dich jetzt selbst retten.
Wie konnte sie sich retten? Rhia schloss die Augen und blickte hinunter auf ihre kümmerliche Gestalt, die da zusammengerollt in der Hängematte lag. Sie sah das gesamte Schiff, mit Masten so gerade und hoch aufragend wie Wachtürme.
Die Wachtürme sind Orte zwischen der Welt der Menschen und der Anderswelt. Wilder Honig tropft von den Waldbäumen, und es gibt endlose Vorräte an Met und Wein. Keine Krankheit kommt übers Meer, und auch kein Tod oder Schmerz oder trauriges Vergehen.
Mit klopfendem Herzen setzte Rhia sich auf. Die Hängematte schaukelte heftig. Sie sah sich um. Das war nicht Mamos Stimme, sondern ihre eigene, ihre Kinderstimme. Spürte sie die hellseherische kleine Rhia, die ihr eine Botschaft aus der Vergangenheit brachte?
Rhia griff in ihre Schürzentasche und schloss die Hand um das gefaltete Papier darin. Sie hatte den Brief, den Dillon ihr gebracht hatte, inzwischen viele Male gelesen und bewahrte ihn stets in ihrer Tasche auf. Nun faltete sie ihn vorsichtig auseinander.
Greystones, 20. März 1841
Meine Liebe,
ich bin in Eile, um die letzte Post noch zu erreichen, deshalb muss ich mich kurzfassen. Ich wollte so gerne zu Dir kommen, aber Dein Vater ist so gebrechlich. In letzter Zeit glaubt er, nachts Mamo zu sehen, in ihren langen Unterhosen und dem alten Umhang. Er sagt, es würde ihr nicht gefallen, ihn in ihrem Cottage zu haben. Immer wieder erinnere ich ihn daran, dass Mamo seit Jahren tot ist und dass – wenn sie sich jemandem zeigen würde – Du das sein würdest, Rhia. Als Du klein warst, warst Du überzeugt davon, eine Feenfrau zu sein, die zwischen der Anderswelt und der Welt der Menschen hin und her reisen konnte, genau wie Rhiannon in den Geschichten. Mamo hat immer gesagt, dass Du deshalb Angst vor dem Meer hast, dass Du Deinen eigenen Schatten darin siehst.
Mich trösten lediglich die Gewissheit Deiner Unschuld und der Glaube, dass man sie beweisen wird. Mr Dillon hat mir die Umstände Deiner Verhaftung erklärt. Er scheint sich ernsthaft um Dein Wohlergehen zu sorgen, und auch das ist ein Trost. Ich hoffe, ihn eines Tages kennenzulernen.
Die Welt wird ihre Sorgen immer und immer wieder verteilen. Mamo hat auch gesagt, dass wir das Heilige in uns selbst finden, nicht in der Kirche. In dieser Sache waren sie und ich nicht immer einer Meinung, aber Du bist jetzt eine erwachsene Frau und kannst Deine eigenen Entscheidungen treffen. Du bist immer in meinem Herzen, und ich werde immer
Deine Dich liebende Mutter sein,
Brigit Mahoney
Rhia faltete
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