Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
Halbschlaf, doch Rhia war trotzdem erleichtert, die Füße auf den festen Holzboden zu stellen. Der Boden bewegte sich jedoch. Sie versteifte die Beine und beugte sich vor, um die Tür zu öffnen. Draußen stand der andere Junge, der Steward. Er war schlaksig und ging etwas gebeugt. Außerdem schien er schüchtern zu sein und sich seiner selbst nicht so ganz sicher. Ihrer Einschätzung nach war er zwei oder drei Jahre älter als Albert, besaß aber nichts vom Schneid des Fähnrichs. Er hielt seine Wollkappe in den Händen und drehte sie beim Sprechen hin und her.
»Sie sollen in den Passagiersalon kommen.«
Rhia folgte dem Steward fast über die gesamte Länge des Passagierdecks an der Holzreling entlang Richtung Bug und dann eine kurze Treppe hinauf, wobei sie seinen sicheren Gang bewunderte. Das Licht war besser geworden, so dass man die verankerten Gefängnisschiffe nun richtig erkennen konnte. Die Bollwerke wirkten aber nur noch unheimlicher und waren ein echter Grund, dankbar zu sein. Dahinter befand sich die Küste von Woolwich, wo ein Durcheinander von Schiffen festgemacht war: Handelsschiffe mit hohen Masten, gedrungene Fischerkähne und hübsche kleine Schaluppen mit bunt angestrichenem Bug. Rhia wandte den Blick rasch von Land und Freiheit ab.
Beim Passagiersalon handelte es sich um ein luftiges, geräumiges Zimmer mit frisch lackierter Holzverschalung und einer Fensterfront. An der Wand hingen Ölgemälde, die Schiffe und Palmen gesäumte Inseln zeigten, und zu beiden Seiten stand je ein gepolsterter Diwan mit einem Mahagonibeistelltisch, der daneben am Boden festgeschraubt war. Es war wie eine Mischung aus Gesellschaftszimmer und Speiseraum. Ein schmaler Herr mit hellem Haar, der ihr den Rücken zugedreht hatte, inspizierte eins der Gemälde. Vermutlich der Botaniker. Der Steward war bereits verschwunden.
Der Mann drehte sich um. Seine Haut war so durchsichtig wie Porzellan und sein Gesicht seltsam charakterlos, wenn auch nicht unfreundlich. Er war etwa so alt wie sie selbst, was Rhia überraschte. Sie hatte jemand Älteren erwartet. Er strahlte eine gewisse unterdrückte Seriosität aus, die wohl mit seinem Beruf einherging. Sein Mantel war aus qualitativ hochwertigem Köperstoff, jedoch abgetragen und altmodisch. Ein Naturforscher brauchte einen Gönner, wenn er seine Berufung zum Beruf machen wollte. Wobei Mr Reeve vielleicht einen solchen gefunden hatte, wenn er eine so lange Reise unternahm? Auch er musterte sie. Er holte tief Luft, ehe er sprach, als müsse er seine Nerven beruhigen.
»Miss Mahoney?«
»Mr Reeve?« Er nickte. Anscheinend wusste er nicht, was er sagen sollte, und Rhia hatte kein Bedürfnis ihm auszuhelfen. Früher hätte sie es vielleicht getan. Sie wartete. Sie hatte alle Zeit auf Gottes Erde. Nur dass sie sich nicht länger auf dem Erdboden befand, wie ihr wieder einfiel, sondern in Manannans Reich.
»Ich hoffe, dass wir gut zusammenarbeiten können«, meinte er schließlich etwas lahm.
Die Absurdität der Situation brachte Rhia fast zum Lachen. Sie würde ihn wohl doch retten müssen. »Welche Art von Arbeit denn?«
Er lachte nervös. »Aber natürlich. Wie töricht von mir. Ich besitze eine … beachtliche Sammlung konservierter Flora – Kräuter, Samenkapseln, et cetera, et cetera –, die ich katalogisiere. Ich habe vor, eine Forschungsstation in Sydney einzurichten, um das Pflanzenleben der Antipoden zu studieren und mit dem des Kontinents zu vergleichen.«
Als er über seine Arbeit und seine Pläne sprach, war er voller Eifer, und Rhia musste nun nicht mehr so tun, als sei sie interessiert. »Das muss aufregend sein, botanische Entdeckungen zu machen. Ich verstehe allerdings immer noch nicht, weshalb Sie meine Hilfe brauchen.«
»Sie wurden mir empfohlen.« Er hüstelte verlegen, als ob er dieses Geständnis herunterspielen wollte. Konnte es Antonia gewesen sein, die veranlasst hatte, dass man sie während der Überfahrt einem privaten Dienst zuteilte? Vielleicht war es ja auch egal, wer sie empfohlen hatte.
Mr Reeve fuhr rasch fort: »Man sagte mir, Sie werden Näharbeiten mit den anderen Frauen ausführen müssen. Sollen wir einen Stundenplan aufstellen? Natürlich nur, falls Ihnen das passt …?«
Rhia schnaubte, ehe sie es verhindern konnte. »Sie vergessen, dass ich eine Gefangene bin, Mr Reeve. Ich muss tun, was man mir sagt.«
Er wirkte etwas verdutzt, nickte aber. »Nun gut. Ich werde mich mit Miss Hayter besprechen. Sie sind … äh, hiermit
Weitere Kostenlose Bücher