Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
Rhias Fertigkeiten und Erfahrung.
Ich war so frei, Eure Situation mit einer kürzlich verwitweten Freundin zu erörtern. Antonia Blake ist eine Frau von bestem Charakter und hat außerdem viel Geschäftssinn. Sie gehört den enthaltsamen Quäkern an, aber man findet keine großzügigere Seele. Ihr Ehemann Josiah, mein Freund und Geschäftspartner, kam in diesem Sommer auf tragische Weise ums Leben, als er geschäftlich in Indien zu tun hatte.
Mrs Blake hat Rhia eingeladen, bei ihr in der City von London, einem dynamischen und aufregenden Viertel der Hauptstadt, zu wohnen. Sie sagt, etwas weibliche Gesellschaft würde ihr guttun. Ganz offensichtlich fehlt ihr Josiah schrecklich. Ich würde Rhia ja gerne selbst ein Quartier anbieten, doch ich habe kürzlich meine Wohnung in der City aufgegeben und bin in meine Büroräume am China Warf gezogen.
Antonia hat mir versichert, dass es für junge Damen mit gutem Leumund eine Vielzahl an Stellungen gibt, die täglich in den Londoner Zeitungen annonciert sind. Würdest Du es Rhia gestatten, in die Hauptstadt zu reisen? Eine junge, intelligente Frau wie sie würde ohne Schwierigkeiten eine Anstellung als Gouvernante oder Gesellschafterin finden. Außerdem weiß ich, dass Connor sie nur zu gerne verheiratet sehen würde. In einer modernen Stadt wie London ist es für eine temperamentvolle Achtundzwanzigjährige durchaus immer noch möglich, einen Ehemann zu finden. Es ist zumindest eine Möglichkeit, die Du in Erwägung ziehen könntest.
Ich muss mich ständig selbst daran erinnern, dass ich diesen Herbst keine Ladung Leinen aus Dublin erhalten werde, aber der Markt verändert sich gerade sowieso sehr rasch. Der Importpreis für amerikanische Baumwolle ist kürzlich stark gesunken, da Londoner Tuchmacher und Kleiderhändler die neuen Stoffe aus Mischmaterial ans Lager nehmen. Es sind aufregende Zeiten und ein ständig wachsendes Geschäft. Natürlich habe ich seit Jahren versucht, meinen Bruder davon zu überzeugen, dass handgewebter Stoff keine Zukunft haben wird.
Connor vertraute mir im Sommer an, wie es um Mahoney-Leinen bestellt ist, und ich hatte gehofft, ihm inzwischen helfen zu können, aber die Sache ist leider kompliziert. Das liegt nicht nur daran, dass ich nicht länger an eine Zukunft für die althergebrachten Produktionsmethoden glaube. Zudem habe ich im Moment keinen Zugriff auf meine finanziellen Mittel.
Lass mich wissen, wie Du Dich in Bezug auf Mrs Blakes Angebot entscheidest. Ich würde mich sehr freuen, Rhia in London zu haben. Aber die Entscheidung liegt bei Euch beiden.
Gottes Segen sei mit Euch. Möge er Euch mit seiner Güte in Euren Sorgen beistehen.
Ryan Mahoney
Rhia biss sich auf die Lippe und blickte wieder hinunter auf den Park. Von ihrer Mutter war immer noch nichts zu sehen. Was hatte ihr Vater seinem Bruder anvertraut und wie war es denn um Mahoney-Leinen bestellt? Es klang beunruhigend. War das der Grund, warum ihre Mutter so sparsam mit dem Talg und den Gaslichtern umging und Tilly angewiesen hatte, ein Hammelbein auszukochen, um daraus eine weitere Mahlzeit zu gewinnen? Wie gewöhnlich hatte niemand Rhia etwas gesagt.
Sie faltete den Brief zusammen, den sie eigentlich nicht hätte lesen sollen. Aber ihre Mutter hatte ihn nun mal auf ihrer Frisierkommode liegen lassen, obwohl sie wusste, dass Rhia den Spiegel brauchte, um sich die Haare zu flechten. Man konnte ihr wegen ihrer verdammten Neugier keinen Vorwurf machen. Hannah nannte es jedenfalls so. Ihr Vater bezeichnete es als unweiblich . Seine üblichen Predigten über das, was sich für den weiblichen Geist schickte und was nicht, vermisste Rhia keineswegs. Aber ihr fehlte die ruhige Korrektheit, mit der er seine Geschäfte führte. Nichts war in Ordnung.
Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie auf den St. Stephen’s Green hinaus und suchte nach einem Muster. Dabei versuchte sie, nicht an Ryans Brief zu denken. Wie wirkte dieses Haus wohl auf Passanten? Es war zu Zeiten von King George erbaut, ein elegantes Haus, nach Londoner Mode weiß gestrichen. Das Haus eines erfolgreichen Geschäftsmanns. War das alles eine Lüge?
Ihre Mutter sollte längst aus dem Krankenhaus zurück sein. Rhia wartete ungeduldig darauf, mit ihr zu sprechen. Sie wollte wissen, wann sie den Laden im Vorderzimmer wieder eröffnen würden. Rhia war ruhelos, und sie langweilte sich. Außerdem hatte sie es satt, wie ein kleines Kind behandelt zu werden. Allerdings hegte sie den Verdacht, dass das hier auch
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