Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
immer fühlte sie sich wie ein Eindringling, der kein Recht hatte, unter denen zu sitzen, die sich ihre Strafen durch Armut oder Gerissenheit verdient hatten. Sie hoffte, so unsichtbar zu sein, wie sie sich fühlte. Doch das war offensichtlich nicht der Fall, denn sie spürte immer wieder Janes verstohlenen Blick. Es war unangenehm und elend so herumzusitzen, ohne eine Beschäftigung zu haben und ohne mit jemandem reden zu können.
Janes knochiger Finger in ihrer Rippengegend ließ Rhia zusammenzucken. Jane schob einen Patchwork-Flicken auf Rhias Schoß und legte eine Nadel mit Faden auf den Tisch vor ihr. Als Rhia zu ihr hinüberschielte, tat sie jedoch so, als sei sie in ihre eigene Näharbeit vertieft.
Agnes erzählte die Geschichte ihrer Festnahme. Alle hatten sie schon zuvor gehört, doch mit jedem Erzählen wurde sie schillernder. Heute war der Polizist, der sie zum St.-Giles-Bordell verfolgt hatte und sie nur mit Mieder und Pluderunterhose bekleidet angetroffen hatte, viel attraktiver und hübscher als beim letzten Mal.
»Also habe ich die Banknoten – die ich ihr weggenommen habe – in mein Strumpfband geschoben«, erklärte sie. Rhia war sich sicher, dass sie die Banknoten das letzte Mal in ihrer Korsage und nicht in ihren Strümpfen versteckt hatte, aber es schien niemanden zu kümmern. Mit ihrem Zigeunerblut war Agnes die geborene Geschichtenerzählerin und brachte ihre Mitgefangenen zum Lachen. In der Messe hatte sich bereits ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt. Selbst allein in ihrer Kammer hatte Rhia sich weniger einsam gefühlt.
Miss Hayters feste schwarze Stiefel und braune Wollsocken tauchten in der Luke auf und stiegen die Leiter hinunter. Als sie nach einem kurzen Schwanken des Bodens das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, sah sie sich um und ihr Blick blieb an Rhia hängen.
»Holen Sie Ihr Nähzeug, Mahoney«, wies sie barsch an. »Jetzt, wo genug von Ihnen wieder auf den Beinen sind, werden wir gemeinsam die Arbeit an einem Quilt aufnehmen.«
Rhia fühlte sich bei der Aussicht, einige Minuten mit Licht und Luft zu verbringen, unglaublich erleichtert. Als sie an Deck kletterte, fragte sie sich, wie sie Wochen und Monate hiervon überleben sollte. Im Gefängnis hatte es zumindest stets die Idee von Freiheit gegeben, wenn die Hufe der Pferde draußen auf dem Pflaster der Newgate Street zu hören waren oder die Geräusche des Schiffsverkehrs in Millbank übers Wasser herüberschallten. Hier gab es nur noch den Ozean und den Himmel.
Und Mr Reeve.
Der Botaniker stand an der Reling nicht weit von ihrer Kajütentür entfernt und blickte über die endlosen Wellen stahlgrauen Wassers hinweg. Rhia näherte sich der Reling, so weit sie es sich traute, und bemerkte, dass er ein Notizbuch in den Händen hielt. Er wollte wohl etwas skizzieren, einen Seevogel vielleicht, doch er wirkte frustriert. Als er sie entdeckte, schlug er das Buch rasch zu.
»Miss Mahoney. Freut mich zu sehen, dass es Ihnen bessergeht.«
»Sie selbst sind nicht erkrankt?«
Er schüttelte den Kopf. »Es macht mir inzwischen nichts mehr aus. Anfangs schon. Ich habe den Großteil einer Reise zu den griechischen Inseln in meiner Koje verbracht.«
Rhia zeigte auf sein Notizbuch. »Haben Sie gezeichnet?«
Er schüttelte den Kopf und schien etwas peinlich berührt zu sein. »Nur Gekritzel. Ich bin ein schlechter Illustrator – eine Katastrophe in meinem Beruf.«
»Ich schätze mal, das ist es«, stimmte sie ihm zu. »Man erwartet mich unten … ich muss …«
»Natürlich. Ja. Ah, Miss Hayter hat zugestimmt, Sie jeden Tag nach dem Mittagessen freizustellen. Ich werde um ein Uhr im Passagiersalon sein.«
»Dort werden wir arbeiten?« Sie war erleichtert, denn sie hatte befürchtet, womöglich mit ihm allein in seiner Kajüte sein zu müssen.
»Der Kapitän hat eingewilligt, mir eine freie Kabine zuzuteilen. Ich reise mit einer recht großen Anzahl von Proben, müssen Sie wissen …«
Rhias Herz sank, doch sie würde bestimmt nicht noch einmal den Fehler begehen, darauf zu warten, dass man sie entließ. »Dann sehen wir uns um ein Uhr.« Sie eilte davon.
In ihrer Kajüte holte sie ihr Nähzeug und so viele Patchwork-Stoffstücke, wie in ihre Schürzentasche passten. Sie fragte sich, welche Tageshälfte sie wohl mehr fürchten würde: die Vormittage im Schiffsbauch oder die Nachmittage mit Mr Reeve. Sie hoffte, zumindest bald Margaret zu Gesicht zu bekommen.
Unten hatten sich zwei weitere Frauen in den Nähkreis
Weitere Kostenlose Bücher