Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
empfohlen. Es braucht Beobachtungsgabe, um so etwas zu bemerken.« Welch Unsinn! Es war überhaupt nicht besonders findig, gewöhnliche Unterschiede in der Struktur von Blättern zu bemerken.
Rhia erlaubte sich ein winziges Lächeln. Nicht weil sie den Botaniker mit ihrer Observationsgabe erfreut hatte, sondern weil sie doch nicht allein war.
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U LTRAMARIN
24. April 1841
Es ist früh, noch kaum hell. Die Luft ist so schwül, dass sie fast an einem klebt. Zu warm, um Halbwollenes zu tragen, aber uns wird keine andere Uniform gestellt. Ich schlafe in meinem Unterkleid. Letzte Nacht hätte ich es beinahe ebenfalls ausgezogen, aber ich kann meine Kajütentür nicht verschließen. Miss Hayter sagt, sie wird in Rio Baumwolle kaufen, damit wir uns Sommerkleider nähen können. Ich nehme mal an, sie hat ein Budget von Whitehall für solche Dinge.
Wahrscheinlich war es töricht, mir auszumalen, Laurence könnte herausfinden, wo ich bin. Wie sollte er das tun, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu lenken? Er wird natürlich davon ausgehen, dass ich mit den anderen im Schiffsbauch untergebracht bin. Ich wage es nicht, mich auf die Suche nach seiner Kabine zu machen. Wie ich höre, patrouilliert Mr Wardell auf Deck, weil man Agnes vor zwei Nächten dabei erwischt hat, wie sie sich mit ihrem Schiffsküchengehilfen getroffen hat. Man hat sie lediglich verwarnt, aber wenn es wieder passiert, wird sie ausgepeitscht, und alle müssen zusehen.
Der Kapitän hat Mr Reeve eine kleine, unbesetzte Kabine auf dem unteren Deck zur Verfügung gestellt. Sie besitzt einen anständigen Schreibtisch, auf dem er seine Notizbücher und seine recht ungeschickten Zeichnungen ausbreitet. Ich bin nicht gerne in einer sauerstoffarmen Kabine allein mit Mr Reeve, der mich anstarrt, wenn er denkt, dass ich es gerade nicht merke, doch der Passagiersalon erinnert mich zu sehr an die Freiheit. Die Reisenden sind sich ihrer Privilegien überhaupt nicht bewusst, genau wie ich selbst einst. Ich habe die kleinen Eitelkeiten der Gesellschaft stets abgetan, und nun sehne ich mich mehr als alles andere danach.
Der heutige Tag wird, vom monotonen Ablauf geregelt, vorbeigehen und dann noch einer und noch einer. Ich versuche, nicht aufs Meer zu schauen, was, wie Du Dir sicher vorstellen kannst, so gut wie unmöglich ist. Bisher ist uns Manannan freundlich gesinnt: Es gab noch keine richtigen Stürme, auch wenn es ab und zu raueres Wetter gibt und regelmäßig Gegenstände vom Regal in meiner Kajüte oder vom Tisch in der Messe herunterfallen. Vielleicht werde ich heute meine Freundin Margaret wieder auf den Beinen sehen. Es ist ein Segen, sie in meiner Gruppe zu haben, aber sie hat sich als Einzige noch immer nicht erholt und ihre Hängematte bisher nicht verlassen.
Draußen war der Himmel hinter den weißen Segeln von intensivem Blau.
Benenne die Farbe!
Rhia fuhr herum, doch das Deck war menschenleer. Es war wieder diese nervtötende Stimme – als hätte sie nicht schon genug Probleme.
»Ultramarin«, sagte Rhia seufzend. Sie wusste, was die Stimme im Sinn hatte: Sie ließ Rhia von den Dingen Notiz nehmen, die sie früher geliebt und geschätzt hatte. »Ultramarin, ein seltenes Blau und einst so teuer wie Gold«, fügte sie hinzu, in der Hoffnung, dass niemand hörte, wie sie mit sich selbst sprach. Dann fiel ihr noch etwas anderes ein: Auf Lateinisch bedeutete ultramarinus »hinter dem Meer«. Es bezog sich auf die Herkunft von Lapislazuli, aus dem Ultramarin gewonnen wurde. Als sie damals Michael Kelly holten, hieß es, man bringe ihn an einen Ort hinter dem Meer . Thomas und sie hatten sich über diese seltsame Formulierung unterhalten, denn als sie noch Kinder waren, hatten sie stets gedacht, dass die Anderswelt hinter dem Meer lag. Jetzt war sie selbst unterwegs zu dem Ort, wo überirdische weiße Bäume wuchsen, und der von Kriminellen und anderen gefährlichen Kreaturen bevölkert wurde. Und was noch schlimmer war, Michael würde Sydney verlassen haben, bis sie dort ankam.
Als sie die Klappe zum Schiffsbauch erreichte, vollzog Rhia ihr Morgenritual, wie im Hof von Millbank: Sie füllte ihre Augen mit Himmel und ihre Lungen mit frischer Luft, ehe sie den Fuß auf die oberste Leitersprosse stellte.
Bisher war es ihr gelungen, einer echten Auseinandersetzung mit Nora und Agnes zu entgehen, weil stets eine Wärterin in der Nähe war. Doch sie spürte die Feindseligkeit der beiden wachsen. Als Nora das letzte Mal Abräumdienst gehabt hatte, hatte sie Rhia
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