Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
vermeiden.« Sobald er gegangen war, hatte Antonia die Vorhänge und Fenster geöffnet. Juliettes wahre Krankheit war ihr Geheimnis. In Anbetracht dessen, welchen Anfall sie bekommen hatte, als Antonia Rhia hatte besuchen wollen, musste es etwas mit ihrer Mutter zu tun haben, die in Millbank war, ehe man sie deportiert hatte. Rhias Einkerkerung hatte sie lediglich vollends aus dem Gleichgewicht gebracht. Oder Juliette wusste etwas über Rhias Festnahme.
Nach dem Frühstück begab sich Antonia wie immer in Josiahs Büro. Inzwischen brauchte sie vor dem Eintreten nicht mehr zur Beruhigung tief durchzuatmen. Sie dankte Josiah im Stillen oft für seine penible Geschäftsführung. Sie war nun mit den Lieferungen und Konten der letzten Saison vertraut und konnte sie auf diese Saison übertragen. Lediglich die Sache mit der Bezahlung der Besatzung der Mathilda musste sie mit Mr Montgomery besprechen, da sie sich nicht sicher war, weshalb manchen der Matrosen von der Isle of Man mehr bezahlt wurde als anderen. Sie nahm an, dass es irgendeine Hierarchie in der Ausbildung oder der Erfahrung gab, von der sie nichts wusste. Was das Rätsel betraf, weshalb die Mathilda nicht aus dem Trockendock in Kalkutta entlassen worden war, nun, das würde sie wohl nie erfahren. Sie hatte das Dokument, das sie Ryan gegeben hatte, nie zurückbekommen. Doch daran durfte sie jetzt nicht denken.
Sie hatte bezüglich Rhias Urteilsanfechtung sowohl mit Mr Montgomery als auch mit Mr Dillon korrespondiert. Auch deshalb kam Jonathan Montgomery heute Vormittag vorbei. Das gemeinsame Geschäft war nur ein weiterer Grund für seinen Besuch. Er hatte gute Beziehungen und schien Bekannte unter den Juristen zu haben, vielleicht sogar am Gericht. Er war jedoch nicht überzeugt davon, dass hier ein Justizirrtum vorlag.
Das Klopfen an der Tür ließ Antonias Herz schneller schlagen. Sie stand auf und strich ihren Rock glatt. Leinen knitterte so leicht, wenn es nicht mit Seide oder Wolle gemischt wurde. Sie ging langsamer, als sie eigentlich wollte, den Flur entlang, wobei ihr Herz immer noch heftig klopfte. Mit der Hand berührte sie das Kruzifix unter ihrem Mieder.
»Bitte bring uns einen Kaffee, Juliette, Liebes«, rief sie, als sie am Esszimmer vorbeikam, wo die beiden Frauen den Tisch mit Flanelltüchern abrieben.
Mr Montgomery war so makellos gekleidet wie immer. Sein Gehrock war aus einem Köperwollstoff, zweifellos italienisch, und seine Seidenkrawatte zitronengelb. Er war so frisch wie der Frühjahrssonnenschein und vollkommen entspannt. Antonia spürte, wie sie innerlich nachgab, als sie zur Seite trat, um ihn einzulassen. Es war schon wieder passiert: Ohne einen Gedanken oder eine Vorwarnung reagierte ihr Körper auf ihn.
»Guten Morgen, Mr Montgomery. Wie geht es Ihnen?«
» Sehr gut, Mrs Blake.«
»Erlauben Sie mir, Ihren Hut und Stock zu nehmen.« Er folgte ihr in den Salon, und sie hatte das Gefühl, seinen Blick zu spüren. Betrachtete er ihren Nacken, ihre Taille?
Der Raum war sauber und roch nach Leinöl und Rosen. Juliette hatte einige Blüten in einer blauen Schale auf dem Tisch arrangiert. Trotz ihrer Eigenheiten war sie ein aufmerksames Mädchen. »Nehmen Sie doch auf dem Sofa Platz«, bat Antonia ihn. »Möchten Sie einen Kaffee?«
Er bejahte, schlug seine Mantelschöße hoch und setzte sich. Sein Lächeln war warm und entspannt, und er hatte die langen Beine lässig übergeschlagen. Antonia hockte auf der Kante eines Stuhles mit gerader Lehne und strich wieder ihren Rock glatt. Sie räusperte sich. »Sagen Sie mir doch bitte, halten Sie Rhia Mahoney für unschuldig?«
Er fuhr sich nachdenklich durch sein eisengraues Haar. »Ich habe noch einmal mit meinem Dienstmädchen Hatty gesprochen, und sie beharrt darauf, dass sie Miss Mahoney mit der Seide gesehen hat. Meine Frau meint, sie hätte Miss Mahoney von Anfang an nicht getraut. Es ist eine unglückliche Situation. Ich habe auch mit dem Ankläger gesprochen, der versichert, der Vorwurf sei unwiderlegbar.«
»Aber Hatty hat sich doch bestimmt getäuscht – vielleicht hat sie auch gelogen, um jemand anderen zu decken? Und dann ist da noch das Rätsel des nicht erschienenen Verteidigers …«
Mr Montgomery wirkte brüskiert. »Ich kann Ihnen versichern, dass alle meine Hausangestellten von ehrlichem Charakter sind.« Er runzelte die Stirn. »Was den Verteidiger betrifft, so weiß ich wirklich nicht, was ich davon halten soll. Ich habe ihm eigenhändig geschrieben, doch er
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