Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
äußerst vielsagend. Die Luft wurde plötzlich kalt, als hätten sich alle Schatten des Hauses in der Eingangshalle versammelt, um die Antwort zu vernehmen: »Du trägst Violett.« Rhias Stimme klang selbst in ihren eigenen Ohren anklagend.
»Ich muss im Vorderzimmer einiges erledigen. Würdest du mir dabei helfen?«
Der Raum, in dem alle öffentlichen Geschäfte von Mahoney-Leinen abgewickelt wurden, lag im Dunkeln. Brigit zog die Vorhänge auf und ließ die Morgensonne herein. Der lange Zuschneidetisch in der Mitte wirkte verloren, und das Chesterfield-Sofa erinnerte Rhia an die Nacht des Brandes. Sie ging zur Wand hinüber, die der Tür gegenüberlag und entlang der sich tiefe Regale erstreckten. Die Bretter bogen sich unter der Last von unzähligen Ballen Damast, Jacquard, Chintz und Batist. Sachte ließ sie die Hand über Leinenstoffe von unterschiedlicher Feinheit und Qualität gleiten, einfarbig und gemustert, gewebt und bedruckt. Die Muster waren das Markenzeichen von Mahoney, und Rhia liebte sie alle. Die Blumendrucke für Teepartys, die indischen Paisleys und die modernen, abstrakten Formen. Das Kaleidoskop aus Mustern und Farben hatte schon immer ihr Leben geschmückt. Sie hatte bestimmte Kompositionen in den bedruckten Stoffen entdeckt, als sie die Details im Kräuterbuch von Culpeper studierte. Nichts jedoch faszinierte sie so sehr wie die Veränderungen, die das Licht in der Natur bewirkte. Sie war von den sonnengebleichten Sommertagen in Greystones ebenso verzaubert wie von den goldenen Herbststimmungen am St. Stephen’s Green. Rhia besaß inzwischen Schachteln voll mit Entwürfen für sich wiederholende Muster. Das war natürlich nur ein Zeitvertreib, denn jeder wusste, dass das Gestalten von Textilien kein Beruf für Frauen war.
Brigit, die eine Hand in die Hüfte gestützt hatte, stand mitten im Zimmer und betrachtete die Regale. Rhia zwang sich, auf dem Sofa stillzuhalten, obwohl sie lieber auf und ab gelaufen wäre. Sie sah sich um und sog die Atmosphäre des Raums in sich auf, als hätte sie ihm noch nie besondere Beachtung geschenkt. Erinnerungen zogen an ihr vorbei. Die gesamte Vorderseite des Hauses hatte schon immer nach Flachs gerochen, und hier hatte sie stets ihre Tage verbracht. Als Kind hatte sie aus hübschen Stoffabfällen winzige Bettdecken für ihre Puppen genäht, während ihre Eltern die Geschäfte abwickelten. Manchmal saß sie mit ihrem Malkasten und einer kleinen Staffelei in einer Ecke und lauschte dem Schnippschnapp der Schere ihrer Mutter und dem Kratzen von Vaters Schreibfeder. Thomas hatte den Malkasten und die Staffelei extra für sie gemacht. Dann wurde er jedoch immer verdrossener, wenn sie lieber etwas aus Culpepers Kräuterkunde abmalte, statt mit ihm am Meer spazieren zu gehen. Erst nach Jahren konnte man die Gegenstände ihrer Pflanzenzeichnungen erkennen.
Brigit starrte immer noch die Regale an, als versuche sie, eine Entscheidung zu treffen. Rhia stand auf und ging zweimal die gesamte Länge des Zimmers auf und ab. Sie wollte nach dem Brief fragen, aber ihre Mutter schien mit den Gedanken ganz weit weg zu sein. Endlich drehte sich Brigit um. Sie sah elend aus.
»Rhiannon …«
So nannte sie Rhia nur, wenn es ein Problem gab. »Ich weiß von dem Brief. Ich habe ihn gelesen«, sagte Rhia hastig.
»Das hatte ich mir gedacht. Und du hattest recht wegen des Violetts. Heute habe ich deinen Vater gebeten, mir die Wahrheit zu sagen. Er hat zugegeben, dass Mahoney-Leinen vor dem Brand bei verschiedenen Gläubigern in der Schuld stand. Das war auch der Grund, weshalb die relativ hohe Versicherungspolice gekündigt wurde. Falsche Sparsamkeit, wie wir jetzt wissen. Der Verlust der Ware und des Lagerhauses hat uns ruiniert. Wir haben uns darauf geeinigt, dass wir dieses Haus verkaufen und dauerhaft nach Greystones ziehen müssen.«
Darauf war Rhia nicht vorbereitet gewesen. Sie trat ans Fenster. Der Nebel hatte sich gelichtet, und im Park tummelten sich Straßenhändler und Kindermädchen, die verhüllte schwarze Kinderwagen schoben. Ihre Selbstbeherrschung fiel von ihr ab wie ein Kleiderstück. Am liebsten hätte sie etwas zerbrochen. »Warum hat er uns das nicht gesagt?«
Brigit sah aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. »Sei nicht wütend auf ihn, er hat sich nur zu sehr geschämt. Er glaubt, er hat die Geschäfte schlecht geführt. Aber es ist einfach die heutige Zeit. Traditionelle Methoden werden altmodisch. So schrecklich ist das nicht, und
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