Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
nicht, dass die uns Ärger machen werden«, rief er über die Schulter jemandem zu, den Rhia nicht sehen konnte. Er schloss auf und zerrte ein Fass und einen prall gefüllten Sack herein. Das Fass enthielt dünne, salzige Brühe und der Sack ungesäuertes Brot sowie Blechschüsseln. Trotz der Vorwarnung aßen sie hungrig. Es gab ihnen wenigstens etwas zu tun.
Rhia schloss die Augen. Langsam wurde es kalt. Sie wollte nicht an zu Hause oder an ihre Familie denken, jetzt nicht, und auch nicht an das Badezimmer in der Cloak Lane. Auch nicht an die Toten. Sie beschloss, nie wieder an die Freiheit zu denken. Sie saß mit dem Rücken an das abgesplitterte Holz gelehnt, spürte, wie die Kälte in sie drang, und dachte an nichts.
So döste sie vor sich hin, kratzte sich mitunter oder wurde von Noras knurrendem Schnarchen geweckt. In den frühen Morgenstunden schien es, als wären alle in der Zelle wach und die Stimmung auf dem Tiefpunkt angelangt. Jane weinte wieder, und jedes Mal, wenn sie schniefte, trat Nora nach ihr, woraufhin sie nur noch lauter schluchzte. Es gab Käfer im Stroh, die so klein waren, dass man sie nicht sehen konnte, und die juckende Striemen an den wärmsten, empfindlichsten Stellen hinterließen.
Bei Sonnenaufgang reichte Agnes einige harte, in Stücke gebrochene Pfeilwurzkekse herum, die sie in ihrer Schürze vom Schiff geschmuggelt hatte. Sie waren alt und schmeckten nach nichts, doch es handelte sich um eine Geste der Solidarität. Nun waren sie zusammen so weit gekommen und hatten überlebt.
»Wie wär’s mit einer Geschichte, Agnes?«, sagte jemand.
»Keine Chance. Ich hab keine mehr.« Sie seufzte. »Es liegt an diesem Ort. Er ist so unheimlich still.« Das stimmte. Doch es war nicht das Gefängnis allein, sondern die Stille stieg aus der Erde empor, wie ein stummes Requiem.
Als ein dünner Strahl Tageslicht durch ein kleines, hohes Fenster fiel, wurden sie vom Wärter, der verschlafen und übellaunig war, nach draußen zu einer Reihe Planwagen gescheucht. Rhias Wagen war schon voll, bevor sie hineinkletterte, und nach ihr wurden noch drei weitere Frauen hineingeschoben, ehe die Plane mit Seilen und Schnallen befestigt wurde. Das Gefährt setzte sich rumpelnd in Bewegung, und es gab nichts zu sehen außer den unglücklichen Gesichtern der anderen. Rhia nahm an, dass sie aussah wie alle anderen: dunkle Ringe unter den Augen, Stroh im Haar und auf den Schultern, die aus dem dreckigen Stoff ihres Kleides herausstachen.
Die Fahrt war kurz, bis man sie an einem mit Gras bewachsenen Ufer aussteigen ließ. Sogar das Gras war fremd. Es war dick und federnd und ein wenig scharfkantig unter den Füßen. Und dann war da der Fluss – Rhia hatte noch nie etwas Derartiges gesehen. Die Reihen von Bauten aus hellem Stein und angemaltem Holz in der Ferne wirkten winzig daneben. Er floss von Westen in den Hafen hinein und durchschnitt die Landschaft, als eile er einem wichtigen Bestimmungsort entgegen. Der wartende Kahn war an einem wackeligen Pier vertäut und glich einem Frachtschiff mit flachem Boden und einem großen Segel. Güter oder lebende Fracht – es war alles dasselbe. Am Ruder stand ein hutzeliger Matrose in einem Militärmantel, der ihm viel zu groß war. Um den Kopf hatte er ein schmutziges Tuch gebunden.
Niemand sagte ein Wort. Die Landschaft schien heiliger als eine Kirche. Die Unermesslichkeit des Himmels oben, das glatte dunkle Wasser, über dem sich der Nebel kräuselte und der Dschungel aus silbernem Eukalyptus an beiden Ufern. Daraus erhoben sich immer wieder Schwärme bunter Papageien und riesige weiße Vögel mit gelben Kämmen. Vögel in der Farbe von Juwelen . Rhia war ganz taub vor Kälte, aber trotzdem verspürte sie eine leise, instinktive Furcht vor dem grünbraunen Wasser und dem flankierenden Wald. Das konnte nicht echt sein. Sie hatte, letztlich, die Anderswelt erreicht.
Die Julisonne war stark und stechend und wärmte sie schließlich ein wenig. Rhia nahm an, dass sich mindestens einhundert der Rajah -Frauen auf dem Kahn befanden, wo sie auf langen Bänken oder auf dem Boden saßen, sprachlos ob dieses mazarinblauen Himmels. Wo auch immer sie hinblickte, sah sie ihr eigenes Unbehagen widergespiegelt. Gab es wilde Tiere im Wald oder im Wasser? Was war dieses Geräusch, das sie dauernd hörten, dasselbe wie letzte Nacht: das Stampfen zwischen den Bäumen und dieser hohe Schrei, der so unheimlich nach Lachen klang. »Eingeborene«, stieß Nelly zwischen zusammengebissenen
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