Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
aus gesehen haben, und jetzt weiß ich, wieso er mir damals bekannt vorkam. Ich habe ihn schon einmal gesehen. Ich schwöre, dass er es war. Das erste Mal habe ich ihn in der fotogenen Zeichnung im Haus in der Cloak Lane gesehen. Er war die dunkle Gestalt zwischen den Bäumen. Natürlich würde ich so etwas niemandem außer Dir sagen.
Er stand hinter einem riesigen alten Baum, als man uns nach dem Abendessen zum Feuerholzsammeln ins Gelände geschickt hat. Hätte er sich nicht bewegt, dann hätte ich ihn für einen Teil des Baumes gehalten, weil seine Gliedmaßen und der Pelzumhang im Dämmerlicht so mit der Rinde verschmolzen. Es schien fast so, als hätte er auf mich gewartet, was natürlich unsinnig ist, ich weiß. Ich hätte ein Geräusch von mir gegeben, wenn er nicht einen Finger an die Lippen gelegt hätte. Er grüßte mich in gebrochenem Englisch und wollte meinen Namen und den Namen meines Schiffes wissen. Wenn er wirklich echt war, und nicht nur ein Schatten, dann kann ich mir nicht vorstellen, wie er auf das Gelände gekommen sein soll, also schätze ich mal, er war eine Art Geist. An diesem Ort wimmelt es nur so von ihnen.
Unsere Besitztümer sind in einem der Vorratsspeicher eingeschlossen und werden uns ausgehändigt, wenn wir entweder einen Entlassungsschein oder ein Heiratsangebot bekommen. Es war leichter als erwartet, an meine Koffertruhe zu gelangen. Es gibt keine festen Regeln, dass man sein Hab und Gut nicht inspizieren darf. Ich hatte also ein Auge auf den Soldaten, der die Speicher bewacht, und sorgte dafür, dass auch er mich im Auge hatte. Die Speicher sind große Scheunen aus rohem, unbehandeltem Holz mit Wellblechdächern. Der Wächter ist ein pickliger Jüngling, der seine dunkelblaue Uniform mit so viel Stolz trägt, dass ich mir sicher bin, er hatte noch keinen Grund, über seine Tätigkeit nachzudenken. Als ich das letzte Mal Feuerholz gesammelt habe, lächelte ich ihn an und beschloss dann, etwas zu versuchen. Ich ging direkt zu ihm hin und fragte ihn, ob ich nachsehen könne, ob meine Koffertruhe auch sicher verwahrt sei. Ganz so einfach war es nicht, denn er wollte natürlich einen Kuss. Ich gab ihm einen Kuss auf den Mund, doch er hatte wohl gedacht, er könne mehr haben, denn seine Hand wanderte über meinen Körper, bis ich ihm einen Klaps geben musste. Er war enttäuscht, hielt sich aber zum Glück an seinen Teil der Abmachung. Das Gebäude ist so groß wie eine Scheune und von oben bis unten mit der erbärmlichsten Ansammlung von Gepäck vollgestopft, die ich je gesehen habe. Die Holzwände haben längs und quer Risse, so dass ein staubiges Gitter aus Sonnenlicht, wie ein Netz, über die Habseligkeiten der Vertriebenen fällt.
Es gibt eine Art alphabetisches System, so dass wir wussten, wo wir suchen mussten und schließlich ein braunes Kartenetikett mit meinem Namen darauf entdeckten. Meine alte Koffertruhe wirkte unter den abgewetzten Säcken und geflickten Stofftaschen und Weidenkörben beschämend schön. Der Soldat zerrte sie über den Boden zu mir, und ich hatte fast Angst sie zu öffnen, als handle es sich um die Büchse der Pandora. Sie erinnert mich zu sehr an die Vergangenheit.
Der Junge besaß den Anstand, bei der Tür zu warten, während ich den kleinen Schlüssel um meinen Hals abstreifte und in das Schloss steckte. Zuerst wollte er sich gar nicht drehen, weil alles von der Überfahrt so rostig war. Doch nach einigem Ruckeln sprang der Deckel schließlich auf. Darin befanden sich die Überreste eines vergessenen Lebens. Ich traute mich kaum, die schönen Kleider und Schals anzufassen, die Korsagen, Unterkleider, Hüte, Stiefel und Strümpfe. Sie gehören jemand Weiblichem, Kultiviertem, nicht zu mir mit meinen roten offenen Händen und Fesseln voller Flohbisse. Wer hatte meine Habseligkeiten so sorgfältig und liebevoll gepackt? Das konnte nur Antonia gewesen sein. Ich berührte meine Farben und Tuschen, als ob es sich um Schätze handelte, und dann sah ich etwas, was ich völlig vergessen hatte: die Geldbörse, in der ich meine paar gesparten Guineen aufbewahrt hatte. Sie fühlte sich schwerer an. Der Soldat rauchte eine Zigarette und schenkte mir keine Aufmerksamkeit, also öffnete ich den Verschluss. Ich zählte mindestens siebzig Silber-Sovereigns. Viel mehr, als ich je verdient habe.
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S EPIA
Jarrah stand direkt außerhalb des Lichtkegels der Straßenlaterne an der George Street und wirkte sehr zufrieden mit sich. Michael schüttelte seine Hand. »Du
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