Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
Veranden waren Pferde festgebunden. Über der Stadt lag der leicht verzweifelte Schleier eines Ortes, der darauf wartete, wahrgenommen oder als Zuhause bezeichnet zu werden.
»Auf dieser Seite der Stadt gibt es ein Gasthaus, wo du baden und dich umziehen kannst«, hatte Michael gesagt, nachdem sie eine Meile oder zwei schweigend zurückgelegt hatten. »Ich nehme nicht an, dass du diese schöne Uniform länger als nötig tragen willst.«
»Nein, wahrlich nicht«, bestätigte Rhia. Bei der Vorstellung, den rauen Stoff abzulegen und nie wieder anzuziehen, hätte sie am liebsten gelacht. Es gab so viel zu sagen und gleichzeitig dann doch wieder nichts. Ihnen blieb noch genug Zeit zum Reden.
Der Gasthof war ein langes, niedriges Gebäude aus geweißeltem Stein mit einer sauberen Auffahrt und einigen hohen Bäumen mit violetten Blüten.
»Jacarandabäume«, erklärte Michael, der ihren staunenden Blick bemerkt hatte. »So nennen die Ureinwohner sie. Das erste Anzeichen, dass der Sommer kommt. Die Sommer hier werde ich sicher nicht vergessen. Von jetzt bis ans Ende meiner Tage werde ich das feuchte, kalte Wetter und den Nebel begrüßen.«
»Du bist schon lange hier.«
»Ja, es war eine lange Zeit.«
Falls die Frau des Wirts es ungewöhnlich fand, dass jemand mit geschorenem Kopf und Sträflingskleidern ein Zimmer für einen Nachmittag wollte, so ließ sie sich davon nichts anmerken. Nicht nachdem Michael sie bezahlt hatte. Sie machte sich in einem spartanischen Zimmer mit Kamin, bloßen Dielenbrettern und einem Metallbett zu schaffen, das Rhia wie die Kammer einer Königin vorkam. Die Wirtin baute ein kupfernes Sitzbad neben dem Feuer auf und goss Kanne für Kanne hinein, bis es voll mit warmem Wasser war. Zum Schluss gab sie noch eine Handvoll Eukalyptusblätter hinzu, ehe sie Rhia zum Baden allein ließ.
Das Badegefäß war groß genug, um mit angezogenen Knien darin zu sitzen. Das warme Wasser glitt wie Seide über ihre Glieder. Rhia konnte immer noch nicht glauben, dass sie heute Morgen im Gefängnis aufgewacht war und jetzt in duftendem Wasser badete. Sie verließ die Wanne erst, als das Wasser kalt war und ihre Zähne klapperten.
Dann legte sie sich aufs Bett, einfach nur weil sie es konnte. Es war kein weiches Bett, aber es roch nach Sonne und Leinen. Ihre Truhe stand mitten im Zimmer. Ob sie es wagen würde, sie zu öffnen und sich in etwas zu kleiden, was nicht die Farbe von Schmutz hatte? So tun, als sei sie jemand, die sie nie wieder sein konnte?
Langsam ging sie auf die Truhe zu und öffnete den Deckel. Beim letzten Mal, als keine Chance bestanden hatte, diese Kleider tatsächlich zu tragen, war es sicher gewesen hineinzuschauen. Sie nahm das zuoberst liegende Kleid heraus, ihr grünes aus Alpakawolle. Sie wollte keine Auswahl treffen müssen – jedes Detail der Freiheit war ihr noch fremd. Rasch suchte sie Schal, Strümpfe und Stiefel zusammen, wobei ihr egal war, ob sie zusammenpassten. Sie konnte sich kaum noch daran erinnern, dass einst jede Einzelheit ihrer Kleidung sorgfältig ausgewählt und aufeinander abgestimmt worden war. Rhia zog sich langsam an, und bruchstückhaft kam die Erinnerung an das daunenweiche Gefühl eines Kaschmirunterkleids wieder, Seidenstrümpfe, die durch ihre Finger glitten, die Weichheit von Kalbsleder.
Sie konnte Michael Kellys Stimme hören. Er war draußen und unterhielt sich vermutlich auf der Veranda mit dem Gastwirt. Der Flur war von oben bis unten mit Holz verkleidet und zog sich durch das ganze Gebäude. An einer Seite stand eine Kommode mit Spiegel. Wann hatte sie zum letzten Mal ihr Gesicht gesehen? In einem anderen Leben. Sie sollte daran vorbeigehen, ohne hinzuschauen.
Doch es gelang ihr nicht.
Sie drehte sich langsam zum Spiegel hin. Die Gestalt darin wirkte erschrocken. War dies ihr Gesicht? Ihre Haut war einen Ton dunkler, und ihr stoppeliges Haar ließ sie jungenhaft wirken. Ihr Gesicht war schmaler, und die Augen wirkten größer. Auch ihr Kleid schien zu groß. Sie beugte sich näher heran. Tiefe Schatten lagen unter ihren Augen. Rasch wandte sie sich ab. Sie hatte genug gesehen.
Als Michael sie erblickte, sauber und in ihren eigenen Sachen, schien er überrascht. Vermutlich sah sie nun wieder weiblicher aus, auch wenn sie sich nicht so fühlte.
»Ich habe uns etwas zu essen bestellt«, sagte er, »denn wie’s aussieht, kannst du etwas Fleisch auf die Rippen vertragen. Aber hier gibt’s nur Emu und Känguru. Was Fasan oder Hase noch am nächsten
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